464e Chronisches Fatigue-Syndrom
Das chronische Fatigue-Syndrom (CFS) ist eine Erkrankung unbekannter Ursache mit persistierender Fatigue und stark eingeschränkter Leistungsfähigkeit. Infektionen insbesondere in Phasen von körperlichem oder seelischem Stress können CFS auslösen. Es gibt zahlreiche Hypothesen zur Ätiologie des CFS, es wird angenommen, dass es eine von den Ursachen heterogene Erkrankung ist. Für eine Subgruppe gibt es Evidenzen für eine autoimmune Genese. Es können prädisponierende, auslösende und die Erkrankung unterhaltende Faktoren unterschieden werden. Anstrengung führt typischerweise zu einer für Tage anhaltenden Verschlechterung der Erkrankung, im Englischen als postexertionelle malaise bezeichnet. Viele Patienten leiden an häufigen und langwierigen Infekten, bei einem Teil findet sich auch ein Immunglobulinmangel.
Neben einer ausführlichen Anamnese ist zum Ausschluss anderer mit Fatigue einhergehender Erkrankungen eine gründliche Differentialdiagnostik erforderlich. Energiemanagement, im Englischen Pacing genannt, und Mechanismen zur Stressreduktion, im Englischen coping, u. a. durch kognitive Verhaltenstherapie (KVT) sind wirksame Interventionen bei CFS. Daneben gibt es eine Reihe kleiner Studien für die Wirksamkeit einer medikamentösen primär symptomorientierten Behandlung.
Für die deutsche Ausgabe Patricia Grabowski und Carmen Scheibenbogen
Definition des chronischen Fatigue-Syndroms
Das chronische Fatigue-Syndrom (CFS) ist eine Erkrankung unbekannter Ursache mit persistierender Fatigue und stark eingeschränkter Leistungsfähigkeit im Alltag. Neben der ausgeprägten Fatigue leiden die meisten Patienten unter Schmerzen, kognitiven Störungen und Schlafstörungen oder nicht erholsamem Schlaf. Das Kardinalsymptom von CFS ist die Zunahme der Beschwerden (> 24 Stunden) nach einer nicht im Verhältnis dazu stehenden körperlichen oder geistigen Anstrengung, im Englischen als postexertionelle Malaise bezeichnet. Weitere mögliche Symptome neben Kopfschmerzen, Halsschmerzen, druckschmerzhaften Lymphknoten, Muskelschmerzen und Gelenkschmerzen sind subfebrile Temperaturen, ein grippiges Gefühl, Zunahme von Allergien und Nahrungsmittelunverträglichkeiten, Reizdarmbeschwerden, Schlafstörungen und Reizempfindlichkeit. Die U.S. Centers for Disease Control and Prevention haben diagnostische Kriterien für das chronische Fatigue-Syndrom entwickelt. (Tab. 464e-1). Die sog. „Kanadischen Kriterien“, die 2003 veröffentlicht wurden und international inzwischen am häufigsten verwendet werden, sind umfangreicher und schließen auch weitere CFS-typische Symptome ein (Carruthers et al. 2011).
Epidemiologie des chronischen Fatigue-Syndroms
Das chronische Fatigue-Syndrom tritt weltweit auf und hat bei Erwachsenen eine Prävalenz von 0,2–0,4 %, Frauen erkranken etwa doppelt so häufig. In Deutschland leben geschätzt 300.000–400.000 Patienten mit CFS, bei einer hohen Dunkelziffer (nicht gestellte Diagnose). Das mittlere Erkrankungsalter beträgt 29–35 Jahre. Vermutlich wird die Diagnose oft nicht gestellt bzw. als eine psychische Erkrankung oder Burn-out fehldiagnostiziert.
Ätiologie des chronischen Fatigue-Syndroms
Es gibt zahlreiche Hypothesen zur Ätiologie des chronischen Fatigue-Syndroms; eine definitive Ursache wurde aber bislang nicht gefunden. Die Unterscheidung zwischen prädisponierenden, auslösenden (präzipitierenden) und die Erkrankung unterhaltenden (perpetuierenden) Faktoren liefert ein Gerüst, das beim Verständnis dieser komplexen Krankheit hilft (Tab. 464e-2).
Prädisponierende Faktoren des chronischen Fatigue-Syndroms
Meist beginnt CFS mit einem Infekt, der oft in eine Phase von Stress oder hoher körperlicher Aktivität fällt. Zwillingsstudien lassen eine familiäre Prädisposition vermuten, unterschiedliche Gen-Polymorphismen wurden beschrieben, ohne dass es bislang ein eindeutiges genetisches Risikoprofil gibt.
Auslösende Faktoren des chronischen Fatigue-Syndroms
Die meisten Patienten berichten von einer Infektion als Auslöser ihrer Erkrankung. Gut dokumentiert ist CFS infolge einer späten Epstein-Barr-Virus(EBV)-Erstinfektion (infektiöse Mononukleose), Enterovirus-, Dengueinfektion, Q-Fieber und Lyme-Krankheit, jedoch beginnt CFS bei vielen Patienten mit einem uncharakteristischen viralen Atemwegsinfekt. Bei einem kleinen Teil der Patienten (ca. 10 %) findet sich im Blut auch eine erhöhte Epstein-Barr-Viruslast als Hinweis auf eine mögliche Reaktivierung. Auch der Nachweis von IgM-Antikörper gegen EBV-VCA und das Fehlen der Antikörper gegen das EBNA-Antigen werden gehäuft beobachtet. In einer US-amerikanischen Studie wurde das murine Leukemia-Virus-related Retrovirus (XMRV) bei CFS identifiziert; mehrere nachfolgende Studien belegten jedoch, dass es sich dabei um ein Laborartefakt gehandelt hat. Außerdem berichten die Patienten oft von anderen präzipitierenden somatischen Ereignissen, wie schweren Verletzungen, Operationen, Schwangerschaft oder Entbindung. Einschneidende Ereignisse wie der Tod eines nahestehenden Menschen, Arbeitslosigkeit, militärische Kampfeinsätze und andere belastende Situationen können ein CFS herbeiführen. Weniger als ein Drittel aller Patienten kann sich an keinen Auslöser erinnern.
Krankheitsunterhaltende Faktoren des chronischen Fatigue-Syndroms
Zu viel körperliche Belastung kann genauso wie psychischer Stress zu einer Zunahme der Beschwerden für viele Tage führen, der postexertionellen Malaise, und bei andauernder Überbelastung auch zu zunehmender Krankheitsverschlechterung. Eine Abwärtsspirale aus fehlender Möglichkeit der beruflichen Tätigkeit, sozialem Abstieg, fehlenden Behandlungsmöglichkeiten und nicht verstehendem Umfeld kommt oft als aggravierender Faktor hinzu. Auch Operationen oder Unfälle können einen Schub auslösen. Infekte treten bei vielen Patienten gehäuft auf und können zu einer wochenlangen Verschlechterung führen, genauso wie Allergien und Nahrungsmittelunverträglichkeiten. Manche Patienten leiden auch an ausgeprägten HSV-1/2- oder Zosterreaktivierungen, die mit Zunahme der Beschwerden einhergehen.
Pathophysiologie des chronischen Fatigue-Syndroms
Die Pathophysiologie des chronischen Erschöpfungssyndroms ist noch nicht geklärt. Neuroimaging-Studien sind widersprüchlich, ergeben bislang kein einheitliches Muster und sind diagnostisch noch nicht einsetzbar.
Evidenzen für eine immunologische Fehlfunktion sind nicht einheitlich. Sowohl eine Reduktion der Immunglobulinklassen als auch eine Erhöhung finden sich bei ca. ¼ der Patienten (Guenther et al. 2015). Defekte der mitogenabhängigen Lymphozytenproliferation, eine Reduktion der Aktivität der natürlichen Killerzellen (NK-Zellen), Verschiebungen in der Zytokinproduktion und der Lymphozytensubpopulationen sind beschrieben. Keiner dieser immunologischen Befunde ist bei der Mehrzahl der Patienten vorhanden und korreliert auch nicht mit der Schwere des chronischen Fatigue-Syndroms. Patienten mit Immunglobulinmangel leiden jedoch häufiger an rezidivierenden Atemwegsinfekten.
Neue Forschungserkenntnisse weisen auf eine Autoimmunerkrankung hin. Eine erste placebokontrollierte Studie aus Norwegen zeigte die Wirksamkeit des B-Zell-depletierenden Antikörpers Rituximab bei CFS, eine Folgestudie die anhaltende Remission nach Ende der Therapie bei einem Teil der Patienten. Bei einem Teil der Patienten lassen sich erhöhte ANA, Autoantikörper gegen Thyreoperoxidase und beta-adrenerge und muskarine Acetylcholinrezeptoren nachweisen (Loebel et al. 2016).
Diagnostik des chronischen Fatigue-Syndroms
Neben einer ausführlichen Anamnese ist zum Ausschluss anderer zur Erschöpfung führender Erkrankungen (z. B. Endokrinopathien, Neoplasien, Herzinsuffizienz) (siehe Kap. 29, Müdigkeit – Differenzialdiagnosen) eine gründliche Untersuchung erforderlich. Die Herzfrequenz ist bei chronischem Fatigue-Syndrom oft leicht erhöht, 10–20 % haben eine lageabhängige Tachykardie, ein sog. Posturales Tachykardiesyndrom (POTS), diese Patienten leiden häufig auch an Schwindel beim Aufstehen. Labortests dienen primär dem Ausschluss anderer Diagnosen; es gibt keinen für das chronische Fatiguesyndrom spezifischen Labortest. Folgende Parameter sind sinnvoll: Differenzialblutbild, C-reaktives Protein, Serumkreatinin, Elektrolyte, Kalzium und Ferritin, Blutglukose, Kreatinkinase, Leberwerte, TSH und eine Urinanalyse. An immunologischen Analysen sind IgG, IgA, IgM, IgE, ANA und Thyreoperoxidase-Antikörper sinnvoll, 10–20 % leiden an einer Hashimoto-Thyreoiditis. Eine serologische Untersuchung auf virale und bakterielle Infektionen ist nur bei richtungsweisender Anamnese angezeigt. Bei Reizdarmbeschwerden sollte eine Fructose-, Lactose-, Histamin- und Glutenintoleranz ausgeschlossen werden. Mittels CT und MRT wurden bislang keine spezifischen Veränderungen identifiziert. Eine MRT-Untersuchung kann bei der differenzialdiagnostischen Abklärung neurologischer Ursachen helfen, ist aber bei fehlenden neurologischen Auffälligkeiten nicht zwingend notwendig. Bei Arthritiden, ausgeprägten Myalgien und/oder einer Sicca-Symptomatik ist eine zusätzliche rheumatologische Untersuchung sinnvoll. Ein Teil der Patienten hat begleitend eine Fibromyalgie. Depressionen, bipolare Störungen, Schizophrenie und Substanzabusus gehen ebenfalls oft mit Fatigue einher, eine diagnostische Abgrenzung kann hier schwierig sein. Eine depressive Reaktion, Angst- und affektive Störungen treten bei einigen Patienten krankheitsbegleitend auf.
Krankheitsmanagement bei chronischem Fatigue-Syndrom
Bei Patienten, die alle Kriterien aus Tabelle 464e-1 erfüllen, und es keinen Hinweis auf eine andere Ursache der Fatigue gibt, besteht der dringende Verdacht auf ein CFS. Zur Diagnosesicherung sollten auch die Kanadischen Kriterien, insbesondere die lang anhaltende Zunahme der Beschwerden nach Belastung, erfüllt sein (Carruthers et al. 2011).
Zur Darstellung von Symptomschwere und Leistungseinschränkung sollte der Patient einen typischen Tagesablauf schildern, vom morgendlichen Aufstehen bis zum abendlichen Schlafengehen, und es wird nach möglichen präzipitierenden Faktoren der Müdigkeit gesucht. Die Fatigue und Leistungseinschränkung lassen sich auch mit Fragebögen wie der Chalder Fatigue Scale oder dem Bell Score quantifizieren (Abb. 464e-1) .
Der Patient sollte über das derzeitige wissenschaftliche Verständnis der auslösenden und krankheitsunterhaltenden Faktoren und effektiven Behandlungsoptionen aufgeklärt werden und Empfehlungen zum Krankheitsmanagement erhalten. Die Einhaltung eines geregelten Tagesablaufs mit der Schwere der Krankheit angepassten körperlichen Aktivitäten sollte empfohlen werden. Zu viel körperliche Belastung sollte unbedingt vermieden werden, da es dann zu einer Zunahme der Beschwerden für viele Tage kommen kann, der postexertionellen Malaise, und bei andauernder Überbelastung auch zu zunehmender Krankheitsverschlechterung. Es gibt Anleitungen für das Energiemanagment, auch „Pacing“ genannt, über die Selbsthilfegruppe Fatigatio e. V. und auch das Führen von Aktivitätstagebüchern wird empfohlen. Auch für die Wirksamkeit einer kognitiven Verhaltenstherapie („coping“) gibt es Evidenzen oder es kann empfohlen werden, autogenes Training oder andere Techniken zum Stressabbau zu erlernen. Die KVT ist ein psychotherapeutisches Verfahren, das auf eine Änderung der Krankheitswahrnehmung und daraus abgeleiteten Verhaltensweisen abzielt. Bei CFS steht die Veränderung der perpetuierenden Faktoren durch den Einsatz von psychologischen Techniken und aktivierenden Komponenten im Vordergrund. Dazu gehören edukative Elemente, wie die Aufklärung über das CFS-Krankheitsmodell, das Vereinbaren von bestimmten Zielen, die Implementierung eines regelmäßigen Schlaf-Wach-Rhythmus, das Anregen und die Aktivierung der müdigkeitsbedingten Wahrnehmung, die Reduktion der Symptom-Fokussierung, das Verteilen der Aktivitäten über den gesamten Tag, die schrittweise Erhöhung der körperlichen Aktivität. Die KVT umfasst in der Regel 12–14 Sitzungen, verteilt auf ca. 6 Monate. Sie hilft den Patienten dabei, die Kontrolle über seine individuellen Krankheitssymptome zu erlangen.
Es gibt eine Reihe von symptomorientierten, teils evidenzbasierten Therapieempfehlungen (Smith et al. 2015). Belastende Symptome, wie Schmerzen und Schlafstörungen, sollten medikamentös behandelt werden, nicht steroidale Antiphlogistika (NSAID) oder auch Pregabalin/Gabapentin bzw. Melatonin sind empfehlenswert. Für die Kurzzeitbehandlung von schweren Schüben besitzt Lorazepam oft gute Wirksamkeit, von ausgeprägten Schlafstörungen Zopiclon oder Zolpidem. Gegen Reizdarmbeschwerden helfen Flohsamenschalen. Kleine kontrollierte Therapiestudien haben auch einen positiven Effekt für Agomelatin, Methylphenidat, Ginseng und Coenzym Q10 gezeigt. Einzig zugelassen in Deutschland gegen Fatigue ist Ginseng, der allerdings meist nur eine geringe Verbesserung der Symptome ermöglicht. Für die Selbstversorgung des Patienten können bereits kleine Verbesserungen der Symptome einen erheblichen Unterschied für die Lebensqualität bedeuten.
Ein wichtiger Baustein der Behandlung ist die Behandlung von Infektionen. Patienten, die mit häufigen bakteriellen Infekten der Atemwege zu tun haben, sollten gezielt behandelt werden. Eine ergänzende allergologische und HNO-ärztliche Abklärung sowie der Ausschluss eines Immundefektes sollten je nach Klinik erfolgen. Bei Patienten, die an einem Immunglobulinmangel und gehäuften Infekten leiden, kann ein Substitutionsversuch über 6 Monate stattfinden. Von vier kontrollierten Studien mit Immunglobulinen bei CFS-Patienten zeigten 2 eine Wirksamkeit. Die Substitution von Vitamin D und bei Mangel von Eisen, Selen und Zink ist wichtig für die Immunfunktion. Bei Patienten, die unter häufigen Herpesvirusrezidiven leiden, kann eine Suppressionstherapie wirksam in der Behandlung der Fatigue sein (z. B. Valaciclovir 2 × 500 mg über 8 Wochen, das für Herpesvirus Typ 2 zugelassen ist). Eine randomisierte Studie mit niedrig dosiertem Aciclovir bei CFS war negativ.
In der oben bereits erwähnten norwegischen Studie mit Rituximab konnte bei 10 von 16 CFS-Patienten eine deutliche Besserung des klinischen Zustandes erreicht werden (Fluge et al. 2015). Eine noch nicht publizierte Folgestudie zeigte eine anhaltende Remission nach Ende der Therapie bei einem Teil der Patienten. Auf Grundlage dieser Daten wird in Norwegen gerade eine Multicenterstudie durchgeführt.
Prognose des chronischen Fatigue-Syndroms
Ohne spezifische Behandlung ist eine Krankheitsremission selten (Bereich: 0–31 %), bei einer Symptom-Besserungsrate im Bereich von 8–63 %. Patienten mit psychiatrischer Komorbidität bzw. mit anhaltender Symptom-Fokussierung haben eine schlechtere Prognose.
Weiterführende Literatur
Carruthers BM et al: Myalgic encephalomyelitis: International Consensus Criteria. J Intern Med 270:327–38, 2011
Fluge O et al: B-lymphocyte depletion in myalgic encephalopathy/chronic fatigue syndrome. An open-label phase ii study with rituximab maintenance treatment. PloS one 10:e0129898, 2015
Guenther S et al: Frequent IgG subclass and mannose binding lectin deficiency in patients with chronic fatigue syndrome. Human Immnunology 76, 729–35, 2015
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