442e Neurophysiologische Untersuchungen des zentralen und peripheren Nervensystems
Für die Diagnose und Verlaufskontrolle von Epilepsien ist das EEG auch heute noch unverzichtbar, einen großen Stellenwert hat es außerdem im intensivmedizinischen Kontext und bei der Feststellung des Hirntodes. Die Bestimmung evozierter Potenziale ist eine sensitive Methode zur Suche nach Schädigung zentraler Leitungsbahnen (z. B. Seh- und Hörbahn). Motorische und sensible Nervenleitgeschwindigkeiten geben in Kombination mit elektromyografischen Befunden Auskunft über Art, Ausmaß und Lokalisation einer Schädigung im periphereren Nervensystem und sind unverzichtbar bei Nervenlähmungen. Mit dem EMG können außerdem neurogene von myogenen Veränderungen in der Diagnostik von neurodegenerativen Erkrankungen und bei Muskelschwäche unterschieden werden.
In diesem Kapitel werden die Untersuchungen der klinischen Neurophysiologie vorgestellt; erläutert werden klinische Indikationen bei Anfällen und Schädigungen des zentralen und peripheren Nervensystems, die technische Durchführung und Grundlagen der Befundinterpretation.
Für die deutsche Ausgabe Charly Gaul
Elektroenzephalografie
Die elektrische Gehirnaktivität kann durch empfindliche Elektroden, die auf der Kopfhaut platziert werden, abgeleitet werden (Elektroenzephalogramm, EEG). Die Potenzialdifferenz zwischen Elektrodenpaaren auf der Kopfhaut (bipolare Ableitung) oder zwischen einzelnen auf der Kopfhaut platzierten Elektroden und einem (relativ) dazu inaktiven gemeinsamen Referenzpunkt (unipolare Ableitung) wird verstärkt und digital aufgezeichnet. Digitale Systeme ermöglichen die Rekonstruktion und Darstellung des EEGs in jeder gewünschten Form, seine Bearbeitung für eine detailliertere Auswertung sowie den Einsatz Computer-gestützter Verfahren zum Nachweis bestimmter Veränderungen. Die Untersuchungsergebnisse hängen vom Alter des Patienten und seiner Wachheit ab. Die aufgezeichnete rhythmische Aktivität repräsentiert die postsynaptischen Potenziale von vertikal orientierten Pyramidenzellen des Kortex und wird durch ihre Frequenz charakterisiert. Bei gesunden, wachen, erwachsenen Personen, die mit geschlossenen Augen ruhig liegen, wird ein α-Rhythmus von 8–13 Hz okzipital im EEG beobachtet, der von einer unterschiedlichen Anzahl von schnelleren, generalisierten β-Wellen unterbrochen wird und bei geöffneten Augen abgeschwächt ist (so genannte visuelle Blockade oder Berger-Effekt)(Abb. 442e-1). Der α-Rhythmus nimmt ebenfalls ab, wenn die untersuchte Person schläfrig ist. Bei oberflächlichem Schlaf wird zunehmend eine langsamere Aktivität im θ- (4–7 Hz) und δ-Bereich (< 4 Hz) erkennbar.
Während der EEG-Ableitung erfolgen für gewöhnlich mehrere Provokationsmanöver, um abnorme Befunde zu provozieren. Dazu gehören normalerweise eine Hyperventilation (für 3–4 Minuten), eine Fotostimulation, Schlaf und nächtlicher Schlafentzug vor einer EEG-Aufzeichnung.
Die Elektroenzephalografie ist nicht invasiv und relativ kostengünstig und kann die klinische Diagnostik und Therapiesteuerung bei Epilepsien und Bewusstseinsstörungen in vielfältiger Hinsicht unterstützen.
Abbildung 442e-1A. Normales EEG mit einem okzipital gut ausgeprägten 9-Hz-α-Rhythmus, der beim Augenöffnen blockiert wird. B. Pathologisches EEG mit diffus verlangsamter Aktivität bei einem eingetrübten Patienten mit Enzephalitis. C. Unregelmäßige langsame Aktivität in der rechten Zentralregion (Herdbefund) vor diffus verlangsamter Hintergrundaktivität bei einem Patienten mit rechtstemproralem Gliom. D. Periodisch auftretende Komplexe bei einem Patienten mit Creutzfeldt-Jakob-Krankheit. Horizontale Einstellung: 1 s; vertikale Einstellung: 200 μV in A, 300 μV in den anderen Bildern. In dieser und der folgenden Abbildung sind auf der linken Bildseite die Elektrodenplatzierungen gemäß dem internationalen 10:20-System angegeben. A = Ohrläppchen; C = zentral; F = frontal; Fp = frontopolar; O = okzipital; P = parietal; T = temporal. Rechtsseitige Platzierungen werden durch gerade Ziffern, linksseitige durch ungerade Ziffern und die Platzierungen entlang der Mittellinie durch Beistellung des Buchstabens Z angezeigt. (Aus MJ Aminoff, ed: Electrodiagnosis in Clinical Neurology, 5th ed. New York, Churchill Livingstone, 2005.)
EEG und Epilepsie
Die Elektroenzephalografie (EEG) ist bei der Beurteilung von Patienten mit Verdacht auf Epilepsie sehr hilfreich. Das Vorliegen einer elektroenzephalografischen Anfallsaktivität, das heißt von veränderten, repetitiven, rhythmischen Entladungen mit abruptem Beginn und Ende, bestätigt die Diagnose. Allerdings schließt das Fehlen einer solchen elektrischen Aktivität bei episodischen Verhaltensstörungen ein Anfallsleiden nicht aus, da diese in den Oberflächen(Skalp)-Ableitungen bei bestimmten fokalen Anfällen fehlen kann. Bei generalisierten tonisch-klonischen Anfällen ist das EEG während eines Anfalls immer auffällig. Meistens ist es nicht möglich, ein EEG während des Anfalls aufzuzeichnen, besonders, wenn die Anfälle nicht vorhersehbar sind oder selten auftreten. Die Entwicklung von tragbaren Geräten, die ein EEG über 24 Stunden oder auch länger auf Kassetten aufzeichnen, hat es ermöglicht, elektroenzephalografische Begleitphänomene solcher klinischer Episoden zu erfassen. Eine derartige Langzeitüberwachung kann bei unklaren Episoden eine Unterscheidung zwischen epileptischen und nicht epileptischen Anfällen ermöglichen, epileptische Anfälle genauer charakterisieren und Aussagen über die Häufigkeit von epileptischen Anfällen machen.
Die Befunde des EEG können auch im anfallsfreien Intervall (interiktal) hilfreich sein, da sie bestimmte Veränderungen aufzeigen, welche die Diagnose einer Epilepsie unterstützen. Derartige epileptiforme Aktivitätsmuster bestehen aus Salven pathologischer Entladungen, die Spikes (Spitzenpotenziale) und Sharp waves (steile Wellen) enthalten. Das Auftreten von epileptiformer Aktivität ist nicht spezifisch für die Epilepsie, kommt aber deutlich häufiger bei Patienten mit Epilepsie als bei Gesunden vor. Findet man epileptiforme Aktivität im EEG eines Patienten mit episodisch auftretenden Verhaltensstörungen, die vom klinischen Aspekt her epileptischer Natur sein könnten, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit erheblich, dass es sich um eine Epilepsie handelt.
EEG-Befunde können auch zur Klassifizierung von Anfallsleiden und zur Auswahl der geeigneten antikonvulsiven Medikation für den einzelnen Patienten herangezogen werden (Abb. 442e-2). Die episodische, generalisierte Spike-Wave-Aktivität, die sowohl während der Anfälle als auch interiktal bei Patienten mit typischen Absencen (Petit mal) vorkommt, unterscheiden sich klar von fokalen interiktalen, epileptiformen Entladungen oder iktalen Mustern, wie sie bei Patienten mit fokalen Anfällen auftreten. Letztere können mit lokalisierten oder generalisierten pathologischen rhythmischen Aktivitäten von unterschiedlicher Frequenz, mit individuell verschiedenen stereotypen Verteilungsmustern oder ohne entsprechende Veränderungen im Oberflächen-EEG auftreten. Es ist wichtig, fokale oder lateralisierte epileptogene Läsionen zu erkennen, insbesondere, wenn eine operative Therapie erwogen wird. Bei diesen Patienten sind ein kombiniertes Langzeitmonitoring von klinischem Anfallstyp mittels Video und dem entsprechenden EEG notwendig. Dazu gehört in der Regel auch eine Ableitung durch intrakraniell (subdural, extradural oder intrazerebral) positionierte Elektroden.
Die Untersuchungsergebnisse des Oberflächen-EEGs können Aufschluss über die Prognose eines Anfallsleidens geben. Im Allgemeinen weist ein normales EEG auf eine bessere Prognose hin, während ein pathologisches Grundmuster oder stark ausgeprägte epileptiforme Aktivität auf eine eher schlechte Prognose hinweisen können. Anhand von EEG-Befunden kann nicht festgestellt werden, ob ein Patient mit Schädel-Hirn-Trauma, Schlaganfall oder Hirntumor ein Anfallsleiden entwickeln wird, weil epileptiforme Aktivität unter diesen Umständen nicht ungewöhnlich ist, unabhängig davon, ob tatsächlich Anfälle auftreten. EEG-Befunde sind für die Entscheidung, ob die antikonvulsive Medikation bei Patienten mit Epilepsie nach jahrelanger Anfallsfreiheit abgesetzt werden kann, nur von begrenztem Nutzen. Nach Unterbrechung einer antikonvulsiven Medikation können auch bei unauffälligen EEG weitere Anfälle auftreten und können Anfälle trotz fortbestehender EEG-Veränderungen ausbleiben. Die Entscheidung über das Absetzen einer antikonvulsiven Medikation wird daher anhand von klinischen Gesichtspunkten getroffen. Das EEG spielt in diesem Zusammenhang keine entscheidende Rolle, abgesehen von der Unterstützung bei der Klärung von klinisch zweifelhaften Fällen, oder wenn der Patient eine Rückversicherung über den besonderen Verlauf einer Behandlung verlangt.
Beim tonisch-klonischen Status epilepticus spielt das EEG keine Rolle, es sei denn, es besteht klinische Ungewissheit darüber, ob die Anfälle bei einem komatösen Patienten andauern („Subtle Status Epilepticus“). Bei Patienten, die sich wegen eines therapierefraktären Status epilepticus in einem therapeutischen künstlichen Koma befinden, können EEG-Befunde Aufschluss über das Stadium der Anästhesie und über eventuell ablaufende Anfälle geben. Während des Status epilepticus zeigt das EEG wiederholt elektrografische Anfallsmuster oder kontinuierliche Spike-and-Wave-Entladungen. Beim nicht konvulsiven Status epilepticus, einer Störung, die nur mittels EEG sicher diagnostiziert werden kann, zeigt das EEG ebenfalls kontinuierliche Spike-and-Wave-Aktivitäten („Spike-and-Wave-Stupor“) oder seltener repetitive elektrografische Anfälle (fokaler Status epilepticus).
Abbildung 442e-2Anfallspotenziale. A. Beginn eines tonischen Krampfanfalls mit generalisierten wiederholten Sharp-Waves mit synchronem Beginn über beiden Hemisphären. B. Salve wiederholter Spikes mit plötzlichem Beginn in der rechten Temporalregion während eines klinischen Anfalls mit vorübergehender Bewusstseinsstörung. C. Synchron über beiden Hemisphären auftretende generalisierte 3-Hz-Spike-Wave-Aktivität im Rahmen einer Absence (Petit mal). Horizontale Einstellung: 1 s, vertikale Einstellung: 400 μV in A, 200 μV in B und 750 μV in C. (Aus MJ Aminoff [ed]: Aminoff’s Electrodiagnosis in Clinical Neurology, 6th ed. Oxford, Elsevier Saunders, 2012.)
EEG bei Koma
Bei zunehmender Bewusstseinsstörung tritt oft unabhängig von der Ursache verlangsamte EEG-Aktivität auf (Abb. 442e-1). Eventuell finden sich weitere Phänomene mit diagnostischer Aussagekraft, wie elektrografische Anfallsmuster oder fokale Veränderungen, die auf eine strukturelle Läsion hinweisen. Bei metabolischen Enzephalopathien verlangsamt sich der Grundrhythmus des EEGs, und es können triphasische Wellen auftreten. Die Reaktion im EEG auf eine externe Stimulation ist prognostisch hilfreich, weil eine elektrozerebrale Reaktion auf ein weniger tiefes Komastadium hinweist als ein reaktionsloses EEG und mit einer besseren Prognose assoziiert ist. Mehrere Ableitungen ermöglichen eine bessere Einschätzung der Prognose als eine einmalige Ableitung und ergänzen die klinischen Beobachtungen, indem sie den Verlauf der Ereignisse festhalten. Mit zunehmender Komatiefe wird das EEG weniger reaktiv und kann ein Burst-Suppression-Muster mit Entladungen unterschiedlicher Frequenz aufweisen, die durch Intervalle relativer Inaktivität unterbrochen sind. In anderen Fällen verringert sich die Amplitude im EEG, bis schließlich keine elektrozerebrale Aktivität (isoelektrisches EEG) mehr nachweisbar ist. Eine solche elektrozerebrale Inaktivität bedeutet nicht zwingend, dass ein irreversibler Hirnschaden vorliegt, denn sie kann auch bei Hypothermie oder bei Medikamentenüberdosierung auftreten. Die Prognose einer elektrozerebralen Inaktivität, eine korrekte Aufzeichnungstechnik vorausgesetzt, hängt vom klinischen Kontext zum Zeitpunkt der Diagnosestellung ab. So bedeutet eine elektrozerebrale Inaktivität, wenn sie technisch korrekt aufgezeichnet wurde, bei Patienten mit schwerer zerebraler Anoxie, dass eine Wiedererlangung hinreichender kognitiver Hirnfunktionen nicht zu erwarten ist.
Bei Patienten mit vermutetem Hirntod kann das EEG, die Anwendung der entsprechenden technischen Standards vorausgesetzt, die Diagnose durch ein isoelektrisches EEG (Nulllinien-EEG) bestätigen. Allerdings müssen alle Erkrankungen, die ebenfalls ein isoelektrisches EEG verursachen, sorgfältig ausgeschlossen werden. Bei einem Nachweis verbliebener EEG-Tätigkeit darf die Diagnose „Hirntod“ nicht gestellt werden. Bei Patienten mit einem Locked-in-Syndrom (Kap. 446) ist das EEG in der Regel normal und trägt zur Unterscheidung dieses Leidens von komatösen Zuständen bei, mit denen es klinisch verwechselt werden kann.
EEG bei anderen neurologischen Erkrankungen
Inzwischen haben die Computertomografie (CT) und die Magnetresonanztomografie (MRT) das EEG nahezu weltweit als nicht invasives Verfahren zur Diagnostik von strukturellen Gehirnveränderungen, wie Tumoren, Infarkten oder Hämatomen, verdrängt (Abb. 442e-1). Dennoch wird das EEG weltweit immer noch für diese Zwecke eingesetzt, obwohl infratentorielle oder langsam wachsende Läsionen damit nicht nachgewiesen werden können. Fokale Verlangsamungen in Form von Slow-Wave-Aktivität, ein lokaler Verlust der elektrozerebralen Aktivität (Herdbefund) oder mehr generalisierte Störungen sind häufige Befunde, geben aber keine zuverlässigen Informationen über den zugrunde liegenden pathologischen Prozess.
Bei Patienten mit einer akuten Enzephalopathie können fokale oder lateralisierte periodische Komplexe langsamer Wellen auf eine Herpes-simplex-Enzephalitis hinweisen; periodische, lateralisierte Entladungen (PLEDs) werden häufig bei Läsionen, wie Hämatomen, Abszessen oder sich rasch ausbreitenden Tumoren, gefunden. EEG-Befunde bei demenziellen Erkrankungen sind in der Regel unspezifisch und können nicht zwischen den verschiedenen Ursachen des kognitiven Abbaus unterscheiden, abgesehen von den seltenen Fällen, in denen triphasische Wellen (periodische Komplexe) auf eine Creutzfeld-Jakob-Krankheit oder eine subakut-sklerosierende Panenzephalitis (Radermecker-Komplexe) hinweisen. Bei den meisten Patienten mit Demenz ist das EEG normal oder leicht verlangsamt, kann aber allein nicht belegen, dass ein Patient dement ist und kann nicht zwischen Demenz und Pseudodemenz unterscheiden.
Kontinuierliche EEG-Ableitung
Dem kurzen im Labor aufgezeichneten EEG entgehen vorübergehend und unregelmäßig auftretende Veränderungen oft. Die kontinuierliche Aufzeichnung über mindestens 24–48 Stunden weist Veränderungen und klinische Ereignisse nach. Oft erfolgt eine kontinuierliche EEG-Ableitung bei schwerkranken Patienten zum frühzeitigen Nachweis neurologischer Veränderungen, was vor allem bei begrenzten klinischen Untersuchungsmöglichkeiten hilfreich ist. So wurde die kontinuierliche EEG-Ableitung zum Nachweis von nicht konvulsiven epileptischen Anfällen oder einer sich entwickelnden zerebralen Ischämie, zur Überwachung der zerebralen Funktion von Patienten mit metabolischen Erkrankungen wie Leberinsuffizienz sowie zum Management der Anästhesietiefe beim pharmakologisch induzierten Koma eingesetzt.
Magnetenzephalografie
Die Aufzeichnung des magnetischen Feldes der elektrischen Gehirnaktivität (Magnetenzephalografie, MEG) erlaubt die Beurteilung der Gehirnaktivität mit geringerem Einfluss anderer biologischer Gewebe als beim EEG. Die MEG wird wegen ihrer Komplexität und der hohen Kosten nur in einigen spezialisierten Zentren eingesetzt. Sie erlaubt die Lokalisierung der Quelle der Aktivität im Zuge einer MRT im Rahmen der so genannten Magnetbildgebung. Bei fokaler Epilepsie isoliert die MEG den Epilepsieherd für eine spätere Operation und die geführte Platzierung intrakranieller Elektroden zur elektrophysiologischen Überwachung. Außerdem wurde die MEG zur Kartierung von Gehirntumoren, zur präoperativen Identifikation der zentralen Fissur und zur Lokalisierung funktioneller Kortexbereiche wie den Sprachzentren eingesetzt.
Evozierte Potenziale
Sensorisch evozierte Potenziale
Die nicht invasive Aufzeichnung von spinalen oder zerebralen Potenzialen, die durch die Stimulation von spezifischen afferenten Bahnen hervorgerufen werden, erlaubt die Prüfung der funktionellen Integrität dieser Bahnen. Diese Aufzeichnung liefert jedoch keine Hinweise auf die Art der zugrunde liegenden Läsionen. Im Vergleich zur Hintergrundaktivität im EEG sind diese evozierten Potenziale so niedrig, dass die Reaktionen auf meist mehrere Hundert Stimuli mit einem Computer aufgezeichnet, addiert und gemittelt werden müssen, um ihre Erkennung und Zuordnung zu gewährleisten. Die EEG-Hintergrundaktivität, die in keiner festgelegten zeitlichen Beziehung zum Stimulus steht, wird durch die Averaging-Technik herausgemittelt.
Visuell evozierte Potenziale (VEP) werden durch monokulare Stimulation mit einem alternierend umkehrbaren Schachbrettmuster hervorgerufen und von der Okzipitalregion in der Mittellinie sowie von jeder Kopfseite abgeleitet. Die Komponente mit der größten klinischen Bedeutung ist die so genannte P100-Antwort, ein positiver Peak mit einer Latenz von etwa 100 ms. Ihr Ablauf, die Latenz und die Symmetrie über beiden Kopfhälften werden registriert. Amplitudenveränderungen sind diagnostisch weniger bedeutungsvoll als Änderungen der Latenz. VEP sind bei der Erkennung von Funktionsstörungen der Sehbahnen vor dem Chiasma opticum hilfreich. Bei Patienten mit einer akuten schweren Optikusneuritis fehlt die P100-Reaktion oft oder ist deutlich abgeschwächt. Sobald eine klinische Besserung eintritt, ist die P100-Reaktion mit verlängerter Latenz wieder vorhanden und bleibt im Allgemeinen permanent pathologisch verlängert. Deshalb kann durch VEP-Befunde eine vorangegangene und subklinisch vorhandene Optikusneuritis festgestellt werden. Bei Augenerkrankungen und anderen Erkrankungen des Sehnervs, wie Ischämie oder Kompression durch einen Tumor, können die VEP ebenfalls pathologisch verändert sein. Bei Patienten mit kortikaler Blindheit können durch Lichtblitze normale VEP ausgelöst werden.
Die routinemäßig aufgezeichneten VEP erfassen die Massenreaktion eines recht großen Rindenareals und sind daher oft nicht sensitiv genug, um lokalisierte Änderungen der Wellenform nachzuweisen. Ein neueres Verfahren, die multifokalen VEP, messen bei jedem betroffenen Auge die Reaktion von 120 Einzelsektoren und sind sensitiver als die Routine-VEP.
Akustisch evozierte Hirnstammpotenziale (AEP) werden durch Stimulation eines Ohres mit sich wiederholenden Klickreizen hervorgerufen und zwischen dem Vertex und dem Processus mastoideus oder dem Ohrläppchen abgeleitet. Einige Potenziale, die mit römischen Ziffern bezeichnet werden, treten innerhalb der ersten 10 ms nach dem Stimulus auf und repräsentieren zum Teil die sequenzielle Aktivierung verschiedener Strukturen auf dem Signalweg zwischen dem Hörnerv (Welle I) und dem Colliculus inferior (Welle V) im Mittelhirn. Der Ablauf, die Gesamtlatenz und die Latenz zwischen den Ausschlägen der ersten fünf positiven, vom Vertex abgeleiteten Potenziale werden ausgewertet. Die Befunde sind hilfreich beim Screening auf Akustikusneurinome, für das Auffinden von krankhaften Hirnstammveränderungen und zur Beurteilung komatöser Patienten. Die AEP sind im Koma normal, wenn metabolisch-toxische Störungen oder beidseitige Hemisphärenerkrankungen zugrunde liegen, jedoch in der Regel verändert bei verschiedenen Hirnstammerkrankungen.
Somatosensibel evozierte Potenziale (SEP) werden von der Kopfhaut oder über der Wirbelsäule als eine Antwort auf die elektrische Stimulation eines peripheren gemischten oder sensiblen Nervs abgeleitet. Die Konfiguration, die Polarität und die Latenz der Antworten hängen von dem jeweiligen Nerv und den Ableitungsanordnungen ab. SEP werden insbesondere bei Patienten, die im Koma liegen oder bei denen der Verdacht auf einen Hirntod besteht, zur Beurteilung der proximalen (sonst nicht zugänglichen) Anteile des peripheren Nervensystems und der Integrität der zentralen somatosensiblen Bahnen herangezogen.
Klinischer Anwendungsbereich sensorisch evozierter Potenziale
Untersuchungen mit evozierten Potenzialen können Läsionen der afferenten Bahnen des ZNS aufdecken und lokalisieren. Sie werden insbesondere bei der Untersuchung von Patienten mit Verdacht auf Multiple Sklerose eingesetzt, deren Diagnose den Nachweis von Läsionen in mehreren verschiedenen Regionen der weißen Substanz des ZNS erfordert. Bei Patienten mit dem klinischen Hinweis auf eine solitäre Läsion ist der neurophysiologische Nachweis von weiteren Veränderungen zur Erhärtung des Verdachts hilfreich, beweist jedoch nicht die Diagnose. Bei Patienten mit Verdacht auf Multiple Sklerose (oder andere neurologische Erkrankungen) mit unklaren krankheitsspezifischen Beschwerden kann die organische Ursache der Symptome durch Veränderungen der evozierten Potenziale in den entsprechenden afferenten Bahnen gesichert werden. Die MRT ist ebenfalls zur Auffindung von Läsionen bei Patienten mit möglicher Multipler Sklerose hilfreich, aber neurophysiologische Untersuchungen sind kostengünstiger und geben eher den funktionellen als den anatomischen Status der afferenten Bahnen wieder. Darüber hinaus decken neurophysiologische Untersuchungen gelegentlich Veränderungen auf, die in der MRT nicht nachweisbar waren oder umgekehrt. Diese beiden Methoden ergänzen einander. Unauffällige neurophysiologische (oder MRT-)Befunde schließen eine Multiple Sklerose bei klinisch begründetem Verdacht jedoch nicht aus. Bei gesicherter Multipler Sklerose ist der Einsatz von evozierten Potenzialen zur Kontrolle des Krankheitsverlaufes oder des Ansprechens auf eine Therapie umstritten. Veränderungen der afferenten Bahnen der evozierten Potenziale werden auch bei anderen Erkrankungen als der Multiplen Sklerose angetroffen. Außerdem sind multimodale Veränderungen für die Multiple Sklerose nicht spezifisch, da sie ebenso bei AIDS, Neuroborreliose, systemischem Lupus erythematodes, Neurosyphilis, spinozerebellären Degenerationen, familiärer spastischer Paraplegie und Vitamin-E- oder -B12-Mangelerkrankungen vorkommen können. Die diagnostische Bedeutung der neurophysiologischen Befunde hängt von der Fragestellung ab, unter denen sie erhoben werden. Pathologische Befunde können die Lokalisierung von Läsionen in weiten Teilen des ZNS erleichtern, aber Versuche einer genauen Lokalisierung sind irreführend, weil die jeweiligen Generatoren vieler EP-Komponenten bislang unbekannt sind.
Die Untersuchungsergebnisse besitzen manchmal prognostische Relevanz. So kann ein bilateraler Verlust von SEP-Komponenten, die im Kortex entstehen, bedeuten, dass die kognitiven Fähigkeiten nach posttraumatischem oder postanoxischem Koma nicht wiedererlangt werden. Evozierte Potenziale können auch zur Beurteilung von Patienten mit Verdacht auf Hirntod hilfreich sein. Bei komatösen Patienten weisen erhaltene akustisch evozierte Potenziale auf eine metabolisch-toxische Genese oder auf einen Schaden der Großhirnhemisphären hin, sind sie noch vorhanden, liegt kein Hirntod vor. Bei Patienten mit Rückenmarkverletzungen werden SEP eingesetzt, um das Ausmaß der Läsion zu untersuchen. Eine vorhandene oder frühzeitig wiedereinsetzende kortikale Reaktion auf die Stimulation eines Nervs unterhalb des betroffenen Rückenmarksegments weist auf eine inkomplette Läsion hin und eine dementsprechend bessere funktionelle Prognose. Ein intraoperatives Monitoring der Funktion der durch die Operation gefährdeten Nervenstrukturen (z. B. SEP-Monitoring bei Karotis-Operationen) kann frühzeitig eine Funktionsstörung erkennen lassen, sodass durch Änderung der verantwortlichen operativen Prozedur ein permanenter Funktionsausfall abgewendet oder minimiert werden kann.
Ophthalmologen und HNO-Ärzte verwenden das Verfahren der evozierten Potenziale zur Bestimmung des Seh- und Hörvermögens bei Patienten, deren Alter oder kognitive Fähigkeiten eine Kooperation bei anderen dazu geeigneten Untersuchungen ausschließt.
Kognitiv evozierte Potenziale
Bestimmte Komponenten der evozierten Potenziale werden eher durch die Aufmerksamkeit der Person und die Umgebung beeinflusst als durch die physikalischen Merkmale des Stimulus. Solche „Event-related“ oder „endogenen“ Potenziale sind auf bestimmte Weise mit der kognitiven Fähigkeit verbunden, einen selten auftretenden gezielten Stimulus von anderen häufigeren Stimuli zu unterscheiden. Für klinische Zwecke wurde die Aufmerksamkeit besonders auf die so genannte P3-Komponente der „Event-related“ Potenziale gerichtet, die aufgrund ihrer positiven Polarität und einer Latenz von ungefähr 300–400 ms nach Auftreten eines gezielten akustischen Stimulus auch als P300-Komponente bezeichnet wird. Die Latenz der P3-Komponente ist bei vielen Demenzpatienten verlängert, bei Patienten mit Depressionen oder anderen Erkrankungen hingegen, die mit der Demenz verwechselt werden können, ist sie im Allgemeinen normal. Die ERP können daher bei klinischer Ungewissheit eine Unterscheidung ermöglichen, wobei eine Potenzialantwort mit normaler Latenz eine demenzielle Erkrankung nicht ausschließt.
Motorisch evozierte Potenziale
Elektrische Potenziale, die von Muskeln oder dem Rückenmark nach Stimulation des motorischen Kortex oder der zentralmotorischen Bahnen abgeleitet werden, bezeichnet man als motorisch evozierte Potenziale (MEP). Für klinische Zwecke werden diese Potenziale meistens als zusammengesetzte Muskelaktionspotenziale abgeleitet, die durch transkutane magnetische Stimulation des motorischen Kortex hervorgerufen werden. In einer achtförmigen Spule wird durch Stromfluss ein starkes, aber kurz andauerndes Magnetfeld erzeugt, das im darunterliegenden Hirngewebe Aktionspotenziale auslöst. Das Verfahren ist schmerzfrei und verhältnismäßig sicher. Veränderungen werden bei einigen neurologischen Erkrankungen mit klinischer oder subklinischer Beteiligung der zentralmotorischen Bahnen (z. B. Multipler Sklerose und amyotropher Lateralsklerose) gefunden. Neben einer möglichen Bedeutung bei der Beurteilung des Ausmaßes einer krankheitsbedingten Beteiligung kann diese Technik Informationen mit prognostischer Relevanz liefern (z. B. bei der Einschätzung der Wahrscheinlichkeit einer Erholung der motorischen Funktion nach einem Schlaganfall). Außerdem kann ein Einsatz beim intraoperativen Monitoring der funktionellen Integrität der zentralmotorischen Bahnen sinnvoll sein. Trotzdem wird dieses Verfahren klinisch kaum genutzt.
Neurophysiologische Untersuchungen von Muskeln und Nerven
Die motorische Einheit ist das Grundelement der motorischen Funktion. Sie ist definiert als Vorderhornzelle samt Axon, neuromuskulärer Endplatte und allen von diesem Axon innervierten Muskelfasern. Die Zahl der motorischen Einheiten in einem Muskel beträgt zwischen etwa 10 in einem äußeren Augenmuskel bis zu mehreren Tausend in den großen Beinmuskeln. Außerdem gibt es eine beträchtliche Variation in der durchschnittlichen Zahl der Muskelfasern, die zur motorischen Einheit eines bestimmten Muskels gehören (dem Innervationsverhältnis verschiedener Muskeln). So liegt das Innervationsverhältnis im menschlichen M. rectus externus oder Platysma unter 25 und im medialen Kopf des M. gastrocnemius zwischen 1600 und 1700. Die Muskelfasern einzelner motorischer Einheiten lassen sich durch besondere kontraktile Eigenschaften, histochemische Färbungen und charakteristische Reaktionen auf muskuläre Erschöpfung in zwei Haupttypen unterteilen. Innerhalb einer motorischen Einheit sind alle Muskelfasern vom selben Typ.
Elektromyografie
Das Muster der elektrischen Aktivität im Muskel (das Elektromyogramm oder EMG) kann in Ruhe und bei Aktivität mithilfe einer Nadelelektrode, die in den Muskel eingestochen wird, aufgezeichnet werden. Die Art und das Muster der Veränderungen entsprechen Störungen auf den unterschiedlichen Ebenen einer motorischen Einheit.
Ein in Ruhe befindlicher Muskel zeigt, außer in der Region der Endplatte, keine elektrische Aktivität. Eine pathologische Spontanaktivität (Abb. 442e-3) kommt bei verschiedenen neuromuskulären Erkrankungen vor, insbesondere jenen mit Denervation und Entzündung. Fibrillationspotenziale und positive scharfe Wellen (welche die Irritabilität der Muskelfasern widerspiegeln) sowie komplexe, sich wiederholende Entladungen werden meistens an denervierten Muskeln gefunden und können auch nach Muskelverletzungen und bei bestimmten Myopathien, insbesondere entzündlichen Erkrankungen, wie der Polymyositis, auftreten. Nach akuten Nervenläsionen werden sie früher in proximalen als in distalen Muskeln gefunden; distal treten sie gelegentlich erst nach 4–6 Wochen auf. Einmal vorhanden, bleiben sie so lange bestehen bis eine Reinnervation eintritt oder es zu einer so hochgradigen Degeneration kommt, dass kein vitales Muskelgewebe mehr vorhanden ist. Faszikulationspotenziale (sog. pathologische Spontanaktivität) sind charakteristisch für neurodegenerative Erkrankungen, insbesondere wenn sie mit einer Degeneration der Vorderhornzellen einhergehen (wie bei der amyotrophen Lateralsklerose). Myotone Entladungen – hochfrequente Entladungen von Potenzialen einzelner Muskelfasern, die in ihrer Amplitude und Frequenz zu- und abnehmen – sind typisch für myotone Erkrankungen, wie die myotonen Dystrophien oder die Myotonia congenita, kommen aber gelegentlich auch bei einer Polymyositis oder anderen, selteneren Erkrankungen vor.
Die leichte Willkürinnervation eines Muskels führt zur Aktivierung einer kleinen Anzahl von motorischen Einheiten. Die von den Muskelfasern dieser Einheiten erzeugten Potenziale, die im Einzugsbereich der Nadelelektrode auftreten, werden registriert (Abb. 442e-3). Die Parameter von normalen Aktionspotenzialen der motorischen Einheit hängen vom zu untersuchenden Muskel und dem Alter des Patienten ab. Die Potenzialdauer beträgt normalerweise 5–15 ms, die Amplitude liegt zwischen 200 μV und 2 mV, die Konfiguration ist meist bi- oder triphasisch. Die Anzahl der aktivierten Einheiten hängt vom Grad der Willkürinnervation ab. Eine Zunahme der Kontraktionskraft des Muskels geht mit einer vergrößerten Zahl aktivierter (rekrutierter) motorischer Einheiten sowie mit einer erhöhten Entladungsfrequenz dieser motorischen Einheiten einher. Bei voller Kontraktion sind normalerweise so viele motorische Einheiten aktiviert, dass einzelne Aktionspotenziale der motorischen Einheiten nicht mehr voneinander unterschieden werden können, man spricht von einem kompletten Interferenzmuster.
Beim erkrankten Muskel treten vermehrt kleine, kurz dauernde, polyphasische Aktionspotenziale (> 4 Phasen) der motorischen Einheiten auf, wodurch im Vergleich zum Gesunden eine übermäßige Anzahl von Einheiten aktiviert wird. Im Gegensatz dazu führt ein Verlust von motorischen Einheiten, wie er bei neurogenen Prozessen auftritt, zu einer Verminderung der Anzahl von Einheiten, die bei maximaler Kontraktion aktiviert werden (sog. gelichtetes Interferenzmuster) und zu einer Zunahme ihrer Entladungsrate. Die Konfiguration und die Größe der Potenziale können ebenfalls abhängig von der Dauer des neuropathischen Prozesses verändert sein. Die überlebenden motorischen Einheiten besitzen zunächst eine normale Konfiguration. Sobald es jedoch zur Reinnervation kommt, nehmen Amplitude und Dauer der Potenziale zu und sie werden polyphasisch (Abb. 442e-3).
Motorische Einheiten feuern manchmal in abnorm rascher Folge, sodass insbesondere bei Tetanie, Spasmus hemifacialis oder Myokymie, doppelte, dreifache oder multiple Entladungen (Doubletten, Tripletten, Multipletten) aufgezeichnet werden.
Eine elektrische Stille findet sich im plegischen Muskel beim Kompartmentsyndrom und charakterisiert die unwillkürliche, anhaltende Muskelkontraktion bei Phosphorylasemangel, die als Kontraktur bezeichnet wird.
Die Elektromyografie (EMG) ermöglicht das Erkennen von Erkrankungen der motorischen Einheit und die Unterscheidung einer neurogenen oder myopathischen Genese. Bei neurogenen Erkrankungen kann die Läsion durch das Verteilungsmuster der betroffenen Muskeln den entsprechenden Vorderhornzellen oder einem anderen spezifischen Bereich zugeordnet werden, da die Axone der α-Motoneurone eine Nervenwurzel, einen Faszikel eines Plexus und einen peripheren Nerv bis zu ihren Endverzweigungen durchlaufen.
Die Untersuchungsergebnisse können Hinweise auf die Schwere der akuten Erkrankung eines peripheren Nervs oder Hirnnervs liefern, indem sie den Ausfall aufzeigen oder anzeigen, ob es zur Denervation gekommen ist. Auch kann erkannt werden, ob ein pathologischer Prozess aktiv oder progressiv ist, wie bei chronischen oder degenerativen Erkrankungen (z. B. amyotrophe Lateralsklerose). Derartige Informationen sind für prognostische Aussagen wichtig. Die Untersuchungsergebnisse erlauben nur in Verbindung mit den klinischen Befunden und weiteren Laboruntersuchungen eine spezifische ätiologische Diagnose.
Es wurden zahlreiche quantitative EMG-Methoden entwickelt. Die gebräuchlichste ist die Bestimmung der durchschnittlichen Dauer und Amplitude von 20 Aktionspotenzialen der motorischen Einheit unter Verwendung einer standardisierten Methode (quantitative Einzelpotenzialanalyse). Die Technik der Makro-EMG liefert Informationen über Anzahl und Größe der Muskelfasern in einem größeren Bereich der motorischen Einheit und wird darüber hinaus verwendet, um die Anzahl der motorischen Einheiten in einem Muskel abzuschätzen. Die automatisierte EMG-Auswertung mit Mustererkennungssoftware wird genutzt, um das Verteilungsmuster von Aktionspotenzialen der motorischen Einheiten, und insbesondere die räumliche und zeitliche Verteilung der Aktivität in einzelnen Einheiten zu untersuchen. Beide Methoden sind vorwiegend für den Spezialisten von Interesse und werden daher nicht näher erläutert. Die Technik der Einzelfaserelektromyografie und wird weiter unten beschrieben.
Abbildung 442e-3Aktivitätsableitung mittels EMG. A. Spontane Fibrillationspotenziale und positive scharfe Wellen. B. Komplexe repetitive Entladungen in einem teilweise denervierten Muskel in Ruhe. C. Normale triphasische Aktivität einer motorischen Einheit. D. Kleines, kurz dauerndes, polyphasisches Aktionspotenzial einer motorischen Einheit, wie es bei myopathischen Erkrankungen abgeleitet werden kann. E. Lang dauerndes polyphasisches Aktionspotenzial einer motorischen Einheit, wie es bei chronischen Neuropathien auftritt.
Bestimmung der Nervenleitgeschwindigkeit (Elektroneurografie)
Die Messung der elektrischen Antwort eines Muskels auf die Stimulation seines versorgenden motorischen Nervs an zwei oder mehr Punkten entlang dessen Verlaufs (Abb. 442e-4) gestattet die Bestimmung der Leitgeschwindigkeit der am schnellsten leitenden motorischen Fasern zwischen diesen Stimulationsorten. Die Latenz und die Amplitude der elektrischen Antwort des Muskels (also des Summenaktionspotenzials des Muskels) auf eine distale Stimulation seiner motorischen Nerven werden ebenfalls mit Normwerten von gesunden Personen verglichen. Bei der sensiblen Neurografie werden die Leitgeschwindigkeit und Amplitude der Aktionspotenziale sensibler Fasern gemessen, indem diese Fasern an einem Punkt stimuliert werden und die Antworten an einem anderen Punkt entlang des Nervenverlaufs aufgezeichnet werden. Bei Erwachsenen beträgt die Leitgeschwindigkeit an den Armen normalerweise 50–70 m/s und an den Beinen 40–60 m/s.
Untersuchungen der Nervenleitung ergänzen die Elektromyografie, da sie den Nachweis und die Quantifizierung der Schädigung eines peripheren Nervs ermöglichen. Sie sind besonders hilfreich für die Feststellung, ob die sensiblen Symptome von einer Schädigung proximal oder distal des Ganglions der hinteren Wurzel stammen (im ersten Fall sind die Untersuchungsergebnisse der peripheren sensiblen Leitung normal) und ob neuromuskuläre Störungen in Zusammenhang mit der Erkrankung des peripheren Nervs stehen. Bei Patienten mit einer Mononeuropathie haben sie eine große Bedeutung zur Lokalisierung einer fokalen Läsion, zur Bestimmung des Ausmaßes bzw. des Schweregrades der zugrunde liegenden Schädigung und zur Prognosestellung bzw. Aufdeckung anderer subklinisch beteiligter peripherer Nerven. Sie ermöglichen die ätiologisch wichtige Unterscheidung zwischen einer Polyneuropathie und einer Mononeuropathia multiplex. Untersuchungen der Nervenleitung spielen eine Rolle bei der Beobachtung des Krankheitsverlaufes und des Ansprechens von Erkrankungen der peripheren Nerven auf die Therapie und können in Einzelfällen den Verdacht auf die zugrunde liegende Schädigung lenken. Bei demyelinisierenden Neuropathien (z. B. chronisch-inflammatorische Polyneuropathie CIDP, Guillain-Barré-Syndrom, metachromatische Leukodystrophie, bestimmte hereditäre Neuropathien) ist die Leitgeschwindigkeit oft deutlich reduziert, die distalen motorischen Latenzen sind verlängert und die motorischen bzw. sensiblen Summenaktionspotenziale können aufgesplittert sein. Bei den erworbenen Typen dieser Neuropathien findet man häufig Leitungsblöcke. Umgekehrt ist die Nervenleitgeschwindigkeit bei axonalen Neuropathien (z. B. bei metabolischen oder toxischen Ursachen) normal oder nur leicht reduziert, die sensiblen Nervenaktionspotenziale sind jedoch klein oder fehlen und im EMG finden sich Denervierungszeichen.
Der Nutzen des EMGs als ergänzende Untersuchung und der Nutzen der Elektroneurografie sollen hier im Zusammenhang mit einem alltäglichen klinischen Problem dargestellt werden. Eine Gefühllosigkeit und Parästhesien des kleinen Fingers und ein damit verbundener Schwund der Handmuskeln können von einer Rückenmarkläsion, einer Wurzelschädigung in Höhe C8/Th1, einer Schädigung des Plexus brachialis (unterer Strang oder medialer Faszikulus) oder einer Läsion des N. ulnaris herrühren. Wenn normale Aktionspotenziale der sensiblen Nerven am Handgelenk nach Stimulation der digitalen Fasern des betroffenen Fingers aufgezeichnet werden können, befindet sich die Schädigung wahrscheinlich proximal des Spinalganglions, es handelt sich dann um eine Wurzelläsion oder eine weiter zentral gelegene Läsion. Im Gegensatz dazu lässt das Fehlen von sensiblen Potenzialen eine distale Schädigung vermuten. Die Elektromyografie zeigt an, ob das Verteilungsmuster der betroffenen Muskeln mit dem Innervationsgebiet der Nervenwurzel oder des N. ulnaris übereinstimmt oder ausgedehnter ist, wobei dann eine Schädigung des Plexus wahrscheinlich ist. Untersuchungen der motorischen Leitung des N. ulnaris lassen auch eine generelle Differenzierung zwischen einer Schädigung der Nervenwurzel (normale Befunde) und Neuropathien des N. ulnaris (pathologische Befunde) zu und kennzeichnen oft den Ort der Schädigung des N. ulnaris. Der Nerv wird dabei in unterschiedlichen Etagen seines Verlaufs stimuliert, um festzustellen, ob das Muskelaktionspotenzial in einem distal gelegenen ulnarisversorgten Muskel eine auffallende Veränderung in der Konfiguration aufweist oder ob eine unverhältnismäßig große Latenzverlängerung bei der Stimulation einer bestimmten Stelle besteht. Die neurophysiologischen Untersuchungsergebnisse erlauben daher in klinisch unklaren Situationen eine definitive Diagnosestellung und die Einleitung einer spezifischen Therapie.
Untersuchungen der F-Welle
Die Stimulation eines motorischen Nervs löst Aktionspotenziale aus, die sowohl in Richtung Rückenmark (antidrom) als auch zu den Nervenendigungen hin (orthodrom) wandern. Die antidromen Impulse regen einige Vorderhornzellen zur Entladung an, die eine schwache motorische Antwort hervorrufen, die deutlich später bei den distalen Muskeln auftritt als die direkte Antwort auf die Nervenstimulation (M-Antwort). Diese so genannte F-Welle ist bei einer proximalen Schädigung des peripheren Nervensystems gelegentlich verzögert oder fehlt, beispielsweise bei einer Wurzelschädigung. Damit trägt ihre Bestimmung zur Lokalisation einer Schädigung bei, wenn konventionelle Untersuchungen zur Bestimmung der Nervenleitung normal ausfallen. Im Allgemeinen ist der klinische Nutzen der Untersuchungen der F-Welle eingeschränkt, außer beim Guillain-Barré-Syndrom, bei dem sie oft fehlt oder verzögert ist.
Untersuchungen des H-Reflexes
Der H-Reflex wird bei gesunden erwachsenen Personen am M. soleus aufgezeichnet und wird durch eine Stimulation des N. tibialis mit niedriger Intensität hervorgerufen und stellt einen monosynaptischen Reflex dar, bei dem die afferenten Muskelspindelfasern (Ia) den afferenten Teil des Reflexbogens bilden und die α-Motoneurone die efferenten Bahnen. Bei älteren Patienten oder Patienten mit Polyneuropathien fehlen die H-Reflexe oft beidseitig, bei Schädigungen der Wurzel S1 können sie einseitig fehlen.
Muskelantwort auf repetitive Nervenstimulation
Das Ausmaß der elektrischen Antwort eines Muskels auf eine supramaximale Stimulation seines motorischen Nervs korreliert mit der Anzahl der aktivierten Muskelfasern. Die neuromuskuläre Überleitung kann durch mehrere unterschiedliche Methoden getestet werden. Am hilfreichsten ist es, mittels Oberflächenelektroden die elektrische Antwort eines Muskels auf die supramaximale Stimulation seines motorischen Nervs durch repetitive (2–3 Hz) Stromstöße vor und in definierten Intervallen nach einer maximalen Willkürinnervation aufzuzeichnen.
Abbildung 442e-4Anordnung zur Messung der Nervenleitgeschwindigkeit am N. ulnaris. Die Reaktionen werden nach supramaximaler Stimulation des Nervs an unterschiedlichen Stellen mit Oberflächenelektroden vom M. abductor digiti minimi abgeleitet und im unteren Bildteil wiedergegeben. (Aus MJ Aminoff: Electromyography in Clinical Practice: Electrodiagnostic Aspects of Neuromuscular Disease, 3rd ed. New York, Churchill Livingstone, 1998.)
Wiederholte neuronale Stimulation reduziert die Freisetzung von Acetylcholin im synaptischen Spalt und damit auch das Ausmaß des durch Stimulation auslösbaren Endplattenpotenzials. Trotzdem findet man normalerweise nur eine geringe oder keine Änderung des Muskelaktionspotenzials, wenn ein motorischer Nerv nach 20–30 Sekunden willkürlicher Kontraktion in bestimmten Intervallen mit 2–3 Hz stimuliert wird. Normalerweise wird nämlich mehr Acetylcholin freigesetzt, als zum Erreichen der Aktionspotenzialschwelle der Muskelfaser notwendig ist. Bei Störungen der neuromuskulären Übertragung fehlt diese Sicherheitsreserve. Daher kann bei Myasthenia gravis eine wiederholte Stimulation, besonders bei einer Frequenz von 2–5 Hz, zu einer Abnahme der neuromuskulären Überleitung führen (Dekrement), die als Amplitudenabfall der betroffenen Muskeln aufgezeichnet werden kann. In ähnlicher Weise können unmittelbar nach einer Periode maximaler Willkürinnervation einzelne oder wiederholte Stimulationen des motorischen Nervs größere Muskelantworten hervorrufen als zuvor (Faszilitierung), was zeigt, dass mehr Muskelfasern ansprechen. Dieser Faszilitierung der neuromuskulären Überleitung nach einer Kontraktion folgt eine längere Periode der Schwäche, die 2–4 Minuten nach der Konditionierungsperiode einsetzt und etwa 10 Minuten andauert. Während dieser Phase ist die muskuläre Antwort herabgesetzt.
Ein Dekrement der Antworten auf eine repetitive Stimulation von 2–5 Hz tritt bei der Myasthenia gravis aber auch bei kongenitalen myasthenen Syndromen auf (Kap. 461). Beim Lambert-Eaton-Syndrom ist die Freisetzung von Acetylcholin an der neuromuskulären Verbindung gestört. Daher ist das Muskelaktionspotenzial, das durch einen Einzelreiz hervorgerufen wird, generell sehr klein. Bei wiederholten Stimulationen mit einer Frequenz bis zu 10 Hz können die ersten Antworten zunächst abnehmen, die nachfolgenden Antworten nehmen aber zu (= Inkrement). Wenn zur Stimulation höhere Frequenzen benutzt werden (20–50 Hz), kann dieses Inkrement die ursprüngliche Amplitude des Muskelaktionspotenzials erreichen. Beim Botulismus ähnelt die Antwort auf eine repetitive Stimulation derjenigen beim Lambert-Eaton-Syndrom, allerdings sind die Befunde etwas variabler und es sind nicht alle Muskeln betroffen.
Einzelmuskelfaserelektromyografie (SFEMG)
Die Methode der Einzelmuskelfaserelektromyografie ist besonders bei Störungen der neuromuskulären Überleitung hilfreich. Eine spezielle Nadelelektrode wird im Muskel platziert und so positioniert, dass Aktionspotenziale von zwei Muskelfasern derselben motorischen Einheit aufgezeichnet werden. Das Zeitintervall zwischen den beiden Potenzialen variiert bei aufeinanderfolgenden Entladungen und wird als neuromuskulärer Jitter bezeichnet. Dieser Jitter kann quantitativ als die durchschnittliche Differenz der zwischen den Potenzialen gelegenen aufeinanderfolgenden Intervalle betrachtet werden und beträgt normalerweise 10–50 μs. Der Jitter ist verbreitert, wenn die neuromuskuläre Überleitung aus irgendeinem Grund gestört ist, und wenn Impulse in einzelnen Muskelfasern ausfallen (Blocking), weil sie an der Endplatte blockiert werden. Zur Diagnosestellung einer Myasthenia gravis ist die Einzelmuskelfaserelektromyografie sensitiver als die repetitive Nervenstimulation oder die Bestimmung der Acetylcholinrezeptor-Antikörperspiegel.
Die Einzelfaserelektromyografie kann auch dazu benutzt werden, die durchschnittliche Faserdichte einer motorischen Einheit zu bestimmen (d. h. die durchschnittliche Anzahl der Muskelfasern pro motorischer Einheit im registrierten Areal) und die Anzahl der motorischen Einheiten eines Muskels zu schätzen; dies ist aber nur von geringer klinischer Relevanz.
Orbicularis-Oculi-Reflex
Die elektrische oder mechanische Stimulation des Ramus supraorbitalis des N. trigeminus auf einer Seite führt zu zwei getrennten Reflexantworten der vom N. facialis versorgten Mm. orbiculares oculi, einer ipsilateralen R1-Antwort mit einer Latenz von ungefähr 10 ms und einer bilateralen R2-Antwort mit einer Latenz von etwa 30 ms. Die Bestimmung dieses Reflexbogens und Registrierung uni- oder bilateraler Beeinträchtigungen zwischen der trigeminalen Afferenz und der Efferenz über den N. facialis wird zur Lokalisation von Schädigungen im Bereich dieser beiden Hirnnerven oder von Pons und Medulla oblongata verwendet.
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