465e Biologie psychiatrischer Erkrankungen
In diesem Kapitel werden Epidemiologie, Genetik und Biologie von vier häufigen psychiatrischen Störungsgruppen besprochen: Autismus-Spektrum-Störungen, Schizophrenie, affektive Störungen und substanzbezogene Störungen.
Psychische Störungen sind häufig und gehen mit einer hohen Krankheitslast einher. Die gegenwärtigen diagnostischen Klassifikationssysteme bilden die Erkrankungen nur unzureichend ab, da sich hinter den einzelnen Diagnosen verschiedene Erkrankungen verbergen. Dieser Umstand macht die Aufklärung der (neuro-)biologischen Ätiologie und Pathogenese schwierig. Genetische (Teil-)Ursachen gelten mittlerweile für die meisten psychischen Störungen als gesichert, zahlreiche einzelne Gene/Allele konnten als Risikokandidaten identifiziert werden, spielen aber einzeln nur eine geringe Rolle.
Während für die Pathogenese der Autismus-Spektrum-Störungen überwiegend Störungen auf der Ebene der neuronalen Signalfunktionen (synaptische Funktionen und Signaltransduktion) angenommen werden, werden für die Schizophrenie auch globalere Modelle der Hirnentwicklung und Neurodegeneration diskutiert. Bei den depressiven Erkrankungen spielen Störungen der Stressregulation eine wesentliche Rolle und bei den substanzbezogenen Störungen das dopaminerg vermittelte Belohnungssystem des Gehirns.
Einige epidemiologische Ergänzungen wurden für den deutschsprachigen bzw. europäischen Raum in diesem Kapitel vorgenommen. Zudem wurden an einigen Stellen die grundlegenden (neuro-) biologischen Modelle skizziert, um den Lesern die Einordnung von Einzelbefunden zu erleichtern.
Für die deutsche Ausgabe Michaela Berg, Martin Driessen und Rainer-Uwe Burdinski
Psychiatrische Erkrankungen sind u. a. Krankheiten des zentralen Nervensystems mit einer Störung von Emotion, Kognition, Motivation und psychosozialer Entwicklung. Sie sind unterschiedlich hereditär; das genetische Risiko macht 20–90 % des Gesamtrisikos für eine Erkrankung aus. Durch ihre hohe Prävalenz, ihren häufig frühen Beginn und durch chronische Verlaufsformen tragen sie erheblich zur weltweiten Krankheitslast bei. Alle psychiatrischen Erkrankungen sind heterogene Syndrome, deren Neuropathologie derzeit nicht gut definiert ist und für die es keine soliden biologischen Marker gibt. Daher wird die Diagnose weiterhin einzig anhand klinischer Beobachtungen unter Hinzuziehung der Kriterien der Internationalen Klassifikation Psychischer Störungen (ICD-10, Kapitel V [F]) und/oder des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders der American Psychiatric Association in der inzwischen 5. Auflage von 2013 gestellt.
Es besteht zunehmend Einigkeit darüber, dass die Klassifikation psychiatrischer Krankheiten nach dem DSM die zugrunde liegende Biologie nicht korrekt widerspiegelt. Durch Unsicherheiten bei der Diagnostik lassen sich die neurobiologische und genetische Basis psychischer Krankheiten nur sehr schwer untersuchen. Daher wurde ein alternatives Diagnoseschema, die Research Domain Criteria (RDCs), entwickelt. Sie teilt die psychischen Krankheiten anhand zentraler Anomalien, wie Psychose (Verlust des Realitätsbezugs) oder Anhedonie (reduzierte Fähigkeit, Freude und Lust zu empfinden) ein. Dahinter steht der Gedanke, dass sich die biologische Basis dieser Schlüsselsymptome leichter finden lässt, wenn alle Krankheiten, in deren Rahmen sie vorkommen, einer Gruppe zugewiesen werden. Zu den weiteren Faktoren, die den Fortschritt beim Verständnis psychischer Störungen erschweren, gehören der fehlende Zugang zu pathologisch verändertem Gehirngewebe in vivo (sondern nur post mortem) und die inhärenten Einschränkungen von Tiermodellen für Krankheiten, die überwiegend durch Verhaltensstörungen definiert sind (z. B. Halluzinationen, Wahnvorstellungen, Schuldgefühle, Suizidalität), die sich bei Tieren nicht beurteilen lassen.
Trotz dieser Einschränkungen gab es in den letzten 10 Jahren deutliche Fortschritte. Die Neuroradiologie weist immer mehr pathologische Gehirnveränderungen nach, genomweite Assoziationsstudien und Hochdurchsatzsequenzierung identifizieren Gene, die zum Risiko für schwere psychische Krankheiten beitragen, und Studien mit besser validierten Tiermodellen liefern neue Einblicke in die molekularen und zellulären Mechanismen sowie die Schaltkreise, die zur Pathogenese beitragen. Inzwischen lassen sich aus peripheren Geweben, z. B. Fibroblasten, eines Patienten neuronenartige Zellen zur Untersuchung der Pathophysiologie und zur Suche nach neuen Therapieformen induzieren. Somit ist zu erwarten, dass die durch menschliches Verhalten definierten psychiatrischen Syndrome zu biologischen Krankheitsentitäten transformiert werden können und sich dadurch bessere Behandlungen sowie irgendwann (im besten Fall kurative) Therapien und Präventionsmaßnahmen ableiten lassen. Dieses Kapitel geht auf mehrere Neuentdeckungen der neurologischen Grundlagenforschung ein, die unser aktuelles Verständnis der Krankheitsmechanismen erweitert haben.
Neurogenetik
Da das menschliche Gehirn beim Lebenden nur indirekt untersucht werden kann, war die Genomanalyse extrem wichtig, da sie molekulare Hinweise auf die Pathogenese psychischer Störungen geliefert hat. Durch die modernen technischen Entwicklungen, die bezahlbare, groß angelegte genomweite Assoziationsstudien und eine fein skalierte Sequenzierung möglich gemacht haben, wurden viele Informationen gewonnen. So wurden bei der Genetik der Autismus-Spektrum-Störungen deutliche Fortschritte erzielt. Dieser heterogenen Gruppe neurologischer Entwicklungsstörungen sind eine gestörte reziproke soziale Kommunikation und Interaktion sowie restriktive, repetitive Verhaltensmuster gemein. Autismus-Spektrum-Störungen sind ausgeprägt hereditär. Die Konkordanzraten bei monozygoten Zwillingen (60–90 %) sind etwa 10-mal höher als bei dizygoten Zwillingen und Geschwistern. Das Autismusrisiko von Verwandten 1. Grades ist etwa 50-mal höher als die Prävalenz in der Allgemeinbevölkerung. Autismus-Spektrum-Störungen sind auch genetisch heterogen. Bis zu 20 % der Fälle entstehen durch mehr als 100 bekannte Mutationen, wobei keine einzelne Mutation mehr als 1 % ausmacht (Tab. 465e-1). Offensichtlich beruhen die meisten Fälle auf komplexen genetischen Mechanismen, wie der Vererbung multipler genetischer Risikovarianten und epigenetischen Modifikationen. So haben bis zu 10 % der Patienten mit Autismus große (> 500 kb) De-novo-Variationen der Kopienzahl, die über das gesamte Genom verstreut sind, sodass wohl hunderte verschiedene Gene das Autismusrisiko beeinflussen.
Trotz der genetischen Heterogenität von Autismus-Spektrum-Störungen gibt es mehrere Gemeinsamkeiten, welche die Pathogenese erklären können. So betreffen viele der identifizierten Mutationen Gene, frühe Proteine, die in die synaptische Funktion und die frühe Regulation der Transkription involviert sind. (Tab. 465e-1). Viele dieser Mutationen haben einen deutlichen Zusammenhang mit aktivitätsabhängigen neuronalen Antworten und können die Entwicklung neuronaler Systeme beeinflussen, die mit Kognition und Sozialverhalten assoziiert sind. Verheerend können sich Änderungen des Gleichgewichts von exzitatorischen und inhibitorischen synaptischen Signalen in lokalen und ausgedehnten Schaltkreisen sowie die Änderung von Mechanismen auswirken, die das Gehirnwachstum kontrollieren. Eine weitere Klasse von Mutationen betrifft Gene (z. B. PTEN und TSC), welche die Signalgebung mehrerer extrazellulärer Stimuli negativ beeinflussen, z. B. durch Transduktion von Rezeptor-Tyrosinkinasen. Ihre Dysregulation kann pleiotrope Effekte haben wie die Veränderung des neuronalen Wachstums und die Veränderung der synaptischen Entwicklung und Funktion.
Dual-specificity tyrosine-(Y)-phosphorylation regulated kinase | ||
Durch ein tieferes Verständnis der Pathogenese und die Identifikation bestimmter Autismus-Spektrum-Störungen wird erhofft, effektivere Therapien zu entdecken. Studien am Mausmodell haben bereits gezeigt, dass sich bestimmte Autismus-ähnliche Verhaltensweisen selbst bei ausgewachsenen Tieren umkehren lassen, indem die zugrunde liegende Pathologie modifiziert wird; diese Ergebnisse sind für viele Betroffenen Grund zur Hoffnung. Erste Erfolge erzielen Behandlungsansätze, die gegen das Ungleichgewicht von Exzitation und Inhibition oder die veränderte mRNS-Translation gerichtet sind. So beeinflussen die Gene TSC1, TSC2 und PTEN die Signalgebung negativ durch den Target-of-Rapamycin-Komplex 1 (TORC1), der die Proteinsynthese steuert. Rapamycin, ein selektiver Inhibitor von TORC1, kann bei Mäusen mit Nullmutationen für diese Gene mehrere Verhaltensauffälligkeiten und synaptische Defekte beheben. Ein weiteres Beispiel ist das Fragile-X-Syndrom, die häufigste Ursache des hereditären Autismus und der mentalen Behinderung. Es entsteht durch Mutationen im FMR1-Gen, durch die es zum Verlust des durch dieses Gen kodierten Fragile-X-mental-retardation-Proteins (FMRP) kommt. FMRP ist ein mit dem Polyribosom assoziiertes mRNS-bindendes Protein, das die Translation eines Anteils (~5 %) aller mRNS verhindert, von denen mehrere für Proteine kodieren, welche für die postsynaptische Dichte verantwortlich sind, z. B. der metabotrope Glutamatrezeptor 5 (mGluR5). Die Behandlung von FMR1-Knockout-Mäusen mit mGluR5-Antagonisten reduziert mehrere Verhaltensauffälligkeiten und morphologische Veränderungen. Diese vielversprechenden präklinischen Ergebnisse haben zu derzeit laufenden Studien mit mGluR5-Antagonisten bei Menschen mit Fragile-X-Syndrom geführt, die derzeit laufen.
Die Möglichkeit zur Katalogisierung häufiger genetischer Varianten und ihre Bestimmung auf Array-based Platforms sowie die seit kurzem verfügbare Sequenzierung des gesamten Genoms ermöglicht die Zusammenstellung von Probengrößen, die für den Nachweis der genetischen Risiko-Loci für Schizophrenie mit genomweiter Signifikanz ausreichen. Mehrere der identifizierten Gene gehören zu Molekularkomplexen, wie den spannungsabhängigen Kalziumkanälen (insbesondere CACNA1C und CACNB2) und der postsynaptischen Dichte der exzitatorischen Synapsen. Ebenso wie bei den Autismus-Spektrum-Störungen finden sich auch bei der Schizophrenie häufig Varianten der Kopienzahl, Einzelnukleotidpolymorphismen sowie kleine Insertionen und Deletionen. Aus groß angelegten Familien- und Populationsstudien stammen erste Informationen über Gene, die das Risiko für eine Drogenabhängigkeit erhöhen. Die am besten etablierten Suszeptibilitäts-Loci sind Regionen auf den Chromosomen 4 und 5, die GABAA-Rezeptor-Gencluster, die mit Alkoholismus assoziiert sind, sowie der CHRNA5-A3-B4-Gencluster für den nikotinischen Acetylcholinrezeptor auf Chromosom 15, der mit der Nikotin- und Alkoholabhängigkeit assoziiert ist.
Ein zentrales Thema der genetischen Untersuchungen psychischer Krankheiten ist die Pleiotropie, also die Beteiligung vieler Gene an vielen psychischen Syndromen. So können Mutationen von MECP2, FMR1 sowie von TSC1 und TSC2 (Abkürzungen siehe Tab. 465e-1) eine mentale Retardierung ohne Autismus-Spektrum-Störung auslösen und andere MECP2-Mutationen Zwangsstörungen und Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrome. Außerdem verursachen manche NRXN1-Allele Symptome von Autismus-Spektrum-Störung und Schizophrenie. Häufige Polymorphismen im CACNA1C-Gen sind stark mit Schizophrenie und bipolarer Störung assoziiert. Die Duplikation von Chromosom 16p ist ebenfalls mit Schizophrenie und Autismus assoziiert, während Deletionen in der DiGeorge-Region und des DISC1-Locus auf Chromosom 22 mit Schizophrenie, Autismus und bipolarer Störung assoziiert sind. Diese Assoziation der Gene mit vielen Syndromen belegt die Komplexität der psychischen Krankheiten und den Einfluss weiterer Faktoren bei der Festlegung des Phänotyps, wie regulatorischer Varianten, die den Zelltyp und den Zeitpunkt der Genexpression festlegen, schützende Varianten und epigenetische Effekte.
Signaltransduktion
Untersuchungen der Signaltransduktion haben zahlreiche intrazelluläre Signalwege aufgezeigt, die bei psychischen Krankheiten gestört sind, und haben damit Ansatzpunkte für die Entwicklung neuer pharmakologischer Therapien geliefert. So ist Lithium hocheffektiv bei der Behandlung der bipolaren Störung. Es hemmt durch Konkurrenz mit Magnesium zahlreiche magnesiumabhängige Enzyme, einschließlich GSK3β und mehrere Enzyme, die an der zur Aktivierung von Proteinkinase C führenden Phosphoinositid-Signalgebung beteiligt sind. Aufgrund dieser Ergebnisse wurden Programme zur Entwicklung von GSK3β- oder Proteinkinase-C-Inhibitoren als neue Ansätze zur Therapie von affektiven Störungen initiiert.
Da trizyklische Antidepressiva (z. B. Imipramin) die Serotonin- und/oder Noradrenalin-Wiederaufnahme hemmen und Monoaminooxidase-Hemmer (z. B. Tranylcypromin) effektive Antidepressiva sind, wurde lange angenommen, dass die Depression durch einen Mangel dieser Monoamine entsteht. Diese Hypothese ließ sich jedoch nicht untermauern. Ein Hauptmerkmal aller Antidepressiva ist, dass die stimmungshebende Wirkung erst nach Langzeitgabe eintritt. Somit sind nicht ihre kurzfristigen Aktionen, nämlich die Förderung der Serotonin- oder Noradrenalinfunktion, für die antidepressive Wirkung verantwortlich, sondern eine nachfolgende Kaskade von Adaptationen des Gehirns. Die Art dieser therapeutisch induzierten Adaptationen muss noch geklärt werden.
Gemäß einer Theorie verursacht bei einem Teil der depressiven Patienten, bei denen die Hypothalamus-Hypophysen-Achse hochreguliert ist und somit vermehrt Corticotropin-releasing Factor (CRF) und Glukokortikoide sezerniert werden, der Glukokortikoidüberschuss eine Atrophie von Neuronen im Hippocampus, wodurch dessen Volumen klinisch erkennbar abnimmt. Durch die chronische Gabe von Antidepressiva lässt sich diese Atrophie durch Anstieg des Brain-derived Neurotrophic Factor (BDNF) im Hippocampus wahrscheinlich umkehren. Ein anderer Mechanismus könnte die stressinduzierte Reduktion der Neubildung hippokampaler Körnerzellen betreffen: Diese lässt sich durch die Gabe von Antidepressiva über BDNF und andere Wachstumsfaktoren umkehren.
Ein wichtiger Fortschritt der letzten Jahre war die Entwicklung mehrerer rasch wirkender Antidepressiva, die nicht über die Monoamine wirken. Das am besten untersuchte ist Ketamin, ein nicht kompetetiver Antagonist des N-Methyl-d-Aspartat(NMDA)-Glutamatrezeptors, das bei stark depressiven Patienten, die nicht auf andere Maßnahmen angesprochen haben, rasch (innerhalb von Stunden) und sichtbar wirkt. In höheren Dosen wirkt Ketamin psychotomimetisch und anästhetisch, während es seine antidepressive Wirkung bei niedriger Dosierung entwickelt (mit nur minimalen Nebenwirkungen). Da der Ketamineffekt nur kurz anhält, wurden mehrere Ansätze entwickelt, um das Ansprechen zu erhalten, wie die wiederholte Ketamingabe. Der Mechanismus, über den Ketamin antidepressiv wirkt, ist unbekannt. Aufgrund seiner hocheffektiven klinischen Wirkung wurden jedoch Tierstudien zur Bedeutung der Glutamatneurotransmission und der synaptischen Plastizität in der limbischen Schlüsselregion initiiert. Aktuelle Belege stützen die Beteiligung einer TORC1-Aktivierung, da die Gabe von Rapamycin in Tiermodellen die antidepressiven Wirkungen von Ketamin blockiert. Die Mechanismen, über die Ketamin TORC1 aktiviert, werden derzeit intensiv untersucht.
Ein wichtiges Ziel auf dem Gebiet des Substanzabusus war die Identifikation von neuroadaptiven Mechanismen, durch die aus wiederholtem Konsum eine Abhängigkeit entsteht. Der wiederholte Gebrauch von Substanzen mit Missbrauchspotenzial führt im Belohnungssystem des Gehirns zu spezifischen Änderungen der zellulären Signaltransduktion, der synaptischen Stärke (Langzeitpotenzierung oder -depression) und der neuronalen Struktur (veränderte Verzweigungen der Dendriten oder veränderte Zellsomagröße). Diese Modifikationen werden zum Teil durch Veränderungen der Genexpression vermittelt, die durch substanzregulierende Einflüsse auf Transkriptionsfaktoren (z. B. CREB [cAMP Response Element Binding Protein] und ΔFosB) und deren Zielgene gebahnt werden. Derartige Veränderungen der Genexpression führen zu dauerhaften Veränderungen der epigenetischen Modifikationen, wie der Histonacetylierung und -methylierung sowie der DNS-Methylierung. Gemeinsam führen die substanzvermittelten Adaptationen zur Änderung zahlreicher Neurotransmittersysteme (z. B. Glutamat, GABA, Dopamin), Wachstumsfaktoren (z. B. BDNF), Neuropeptide (z. B. Corticotropin-releasing Factor) und intrazelluläre Signalkaskaden. Diese Adaptationen liefern Ansätze für die Entwicklung von gezielten Therapien von Abhängigkeitserkrankungen. Da das Spektrum der Adaptationen zum Teil von der konsumierten Substanz abhängt, eröffnet sich die Möglichkeit, für die jeweiligen Klassen der abhängigkeitserzeugenden Substanzen jeweils spezifische Therapien zu entwickeln, die dadurch mit geringerer Wahrscheinlichkeit die normalen Mechanismen von Motivation und Belohnung stören.
Zunehmend werden die kausalen Zusammenhänge zwischen den jeweiligen molekular-zellulären Adaptationen und den spezifischen Verhaltensauffälligkeiten geklärt, die für den Zustand der Abhängigkeit kennzeichnend sind. So führt die akute Aktivierung von μ-Opioidrezeptoren durch Morphin oder andere Opiate zur Aktivierung von Gi/o-Proteinen und hemmt so die Adenylylzyklase, sodass die Produktion von cAMP, die Aktivierung der Proteinkinase A (PKA) und die Aktivierung des Transkriptionsfaktors CREB reduziert werden. Die wiederholte Verabreichung dieser Substanzen (Abb. 465e-1) löst eine homöostatische Reaktion mit Heraufregulation der Adenylylzyklasen und der PKA, vermehrter Produktion von cAMP und vermehrter Aktivierung von CREB aus. Eine derartige Up-Regulation der cAMP-CREB-Signalgebung wurde im Locus coeruleus, im periäquaduktalen Grau, in der Area tegmentalis ventralis, im Nucleus accumbens sowie in mehreren anderen Hirnregionen nachgewiesen und trägt zum Verlangen (Craving) nach Opiaten, aber auch zu Symptomen des Opiatentzugs bei. Die Tatsache, dass endogene Opioidpeptide im Gegensatz zu Morphin und Heroin weder zu Toleranz noch zur Abhängigkeit führen, könnte auf der Beobachtung beruhen, dass Morphin und Heroin im Gegensatz zu den endogenen Opioiden schwache Induktoren der μ-Opioidrezeptor-Desensitivierung und der Endozytose sind. Dadurch führen die suchtrelevanten Substanzen zu einer prolongierten Rezeptoraktivierung und Inhibition der Adenylylzyklasen und setzen so einen starken Reiz für die Up-Regulierung der cAMP-Signalgebung, die für eine Opiatabhängigkeit typisch ist.
Abbildung 465e-1Opiatwirkung am Locus coeruleus (LC). Die Bindung von Opiatagonisten an μ-Opioidrezeptoren katalysiert den Nukleotidaustausch von Gi- und Go-Proteinen, hemmt dadurch die Adenylylzyklase, führt durch Aktivierung der Kaliumkanäle zur neuronalen Hyperpolarisierung und supprimiert durch Hemmung der Kalziumkanäle die Neurotransmitterfreisetzung. Auch die Aktivierung von Gi/o hemmt die Adenylylzyklase (AC), reduziert die Aktivität der Proteinkinase A (PKA) und ändert durch Reduktion ihrer Phosphorylierung die Funktion mehrerer PKA-Substratproteine. So reduzieren Opiate die Phosphorylierung von cAMP Response Element-binding Protein (CREB), was zu Langzeitveränderungen der neuronalen Funktion führt. Die chronische Gabe von Opiaten erhöht die Spiegel der AC-Isoformen, der katalytischen (C) und regulatorischen (R) PKA-Untereinheiten und die Phosphorylierung mehrerer Proteine einschließlich CREB (rote Pfeile). Diese Veränderungen tragen zu dem geänderten Phänotyp der Substanzabhängigkeit bei. So wird z. B. die Exzitabilität der LC-Neurone durch die verstärkte cAMP-Signalgebung erhöht, wobei die ionische Basis dieses Effekts weiterhin unbekannt ist. Die Aktivierung von CREB führt zur Heraufregulation von AC-Isoformen und der Tyrosinhydroxylase, dem geschwindigkeitsbestimmenden Enzym der Katecholamin-Biosynthese.
Neurobiologische Regelkreise/Netzwerke
Die Untersuchungen von Regelkreisen des Gehirns, die unser Verhalten bestimmen, zeigten große Fortschritte durch Anwendung neuerer neuroradiologischer Verfahren, die Störungen der neuronalen Funktion und neuronalen Regelkreisen bei psychischen Erkrankungen sichtbar machen. Außerdem wurden in den letzten 10 Jahren revolutionäre neue Techniken entwickelt, zum Beispiel die Optogenetik sowie Designer-Rezeptoren und -Liganden, die eine bislang noch nie dagewesene zeitliche und räumliche Kontrolle der neuronalen Schaltkreise und den Nachweis neuronaler Aktivität bei wachen Tieren in Echtzeit ermöglichen, während diese bestimmte Verhaltensweisen zeigen.
Die Positronen-Emissionstomografie (PET), die Diffusions-Tensor-Bildgebung (DTI) und die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT) haben neuronale Schaltkreise identifiziert, die zu psychischen Krankheiten beitragen, zum Beispiel den neuronalen Schaltkreis für die Stimmung im limbischen System (Abb. 465e-2). Zu diesem System gehören der Nucleus accumbens (wichtig für die zerebrale Belohnung, siehe unten), die Amygdala, der Hippocampus und Regionen des präfrontalen Kortex. Aktuelle optogenetische Studien an Tieren, bei denen die Aktivität bestimmter Neuronentypen in bestimmten Schaltkreisen mit Licht kontrolliert werden kann, haben die Bedeutung dieses limbischen Schaltkreises bei der Kontrolle depressiver Verhaltensauffälligkeiten bestätigt. Da viele Symptome der Depression (neurovegetative Symptome) physiologische Funktionen betreffen, wird zudem von einer Schlüsselrolle des Hypothalamus ausgegangen. Einige Patienten mit Depression weisen einen geringfügig kleineren Hippocampus auf. Außerdem hat die zerebrale Bildgebung eine erhöhte Aktivität der Amygdala nach negativen Reizen und eine reduzierte Aktivierung des Nucleus accumbens nach Belohnungen belegt, und es gibt Hinweise auf eine Aktivitätsänderung des präfrontalen Kortex, wie die Hyperaktivität der subgenualen Region 25 im anterioren zingulären Kortex. Aufgrund dieser Befunde wurden Studien zur tiefen Hirnstimulation des Nucleus accumbens oder der subgenualen Region 25 initiiert, die bei manchen depressiven Menschen therapeutisch effektiv zu sein scheint.
Abbildung 465e-2Neuronale Schaltkreise von Depression und Sucht. Die Abbildung zeigt eine vereinfachte Zusammenfassung mehrerer limbischer Schaltkreise im Gehirn, die Stimmung und Motivation steuern und vermutlich an Depression und Sucht beteiligt sind. Gezeigt werden der Hippocampus (HP) und die Amygdala (Amy), Regionen des präfrontalen Kortex, der Nucleus accumbens (NAc) und der Hypothalamus (Hyp) sowie ein Teil der bekannten Verbindungen und die Innervation mehrerer dieser Gehirnregionen durch monoaminerge Neurone. Die Area tegmentalis ventralis (VTA) liefert diesen limbischen Strukturen den dopaminergen Input. Noradrenalin (aus dem Locus coeruleus [LC]) und Serotonin (aus den dorsalen [DR] und anderen Raphekernen) sind Botenstoffe in den gezeigten Bereichen. Außerdem bestehen starke Verbindungen zwischen dem Hypothalamus und dem VTA-NAc-Signalweg. Wichtige peptiderge Projektionen des Hypothalamus sind jene vom Nucleus arcuatus, die β-Endorphin und Melanocortin freisetzen, sowie jene vom lateralen Hypothalamus, die Orexin abgeben.
Bei der Schizophrenie wurde in Studien mit struktureller und funktioneller Bildgebung ein Verlust von 3 % des Hirnvolumens ermittelt, der überwiegend die graue Substanz und im Laufe der Zeit vor allem die kortikale graue Substanz betrifft. Am schwersten sind meist die Temporallappen, insbesondere der linke Gyrus temporalis superior, der Heschl-Gyrus und das Planum temporale betroffen. Besonders rasch schreitet der Verlust in diesen Bereichen sowie in den Frontal- und Parietallappen im frühen Krankheitsverlauf fort. Die funktionelle Bildgebung zeigt in Ruhe sowie bei der Testung der Exekutivfunktion einschließlich des Arbeitsgedächtnisses im dorsolateralen präfrontalen Kortex eine reduzierte metabolische (vermutlich neuronale) Aktivität. Außerdem gibt es insbesondere in den Frontal- und Temporallappen Hinweise auf eine gestörte strukturelle und aufgabenspezifische funktionelle Konnektivität.
Diese neuroradiologischen Befunde bei der Schizophrenie wurden durch pathologische Studien bestätigt, die eine Vergrößerung des Ventrikelsystems sowie in den Frontal- und Temporallappen und dem limbischen System eine Reduktion der kortikalen und subkortikalen grauen Substanz ergaben. Die Reduktion der kortikalen Dicke geht mit einer höheren Zelldichte und reduziertem Neuropil (Axone, Dendriten und Gliazellfortsätze) einher, sodass sich die Zahl der neuronalen Zellen nicht ändert. In bestimmten Interneuronen des präfrontalen Kortex ist die Expression des GAD1-Gens, das für das Enzym Glutaminsäre-Deecarboxylase 1 kodiert, grundsätzlich reduziert. Dieses Enzym synthetisiert γ-Aminobuttersäure (GABA), den wichtigsten inhibitorischen Neurotransmitter des Gehirns. Neuregulin 1 (NRG1), ein Mitglied der Wachstumsfaktorenfamilie des Epidermal Growth Factor (EGF), und sein Rezeptor ERBB4 sollen zur Schizophrenie beitragen und spielen eine wichtige Rolle bei der Reifung GABAerger Interneurone im zerebralen Kortex. Bei Mäusen führt der Verlust von NRG1-ERBB4 zur Reduktion des Neuropils, einer Phänokopie des pathologischen Befundes bei Schizophrenie. Diese Ergebnisse passen zu der Arbeitshypothese, dass die Schizophrenie eine neurodegenerative Entwicklungsstörung ist, die zum Teil durch den Untergang kortikaler Interneurone in den Frontal- und Temporallappen entsteht.
Arbeiten an Nagetieren und nicht humanen Primaten haben bestätigt, dass die Belohnungszentren des Gehirns der zentrale Angriffspunkt der akuten Aktionen von Substanzen mit Missbrauchs- und Suchtpotenzial nach wiederholter Substanzverabreichung sind (Abb. 465e-2). Dopaminneurone in der Area tegmentalis ventralis (VTA) im Mittelhirn fungieren normalerweise als Belohnungsregler: Sie werden durch natürliche Belohnungen (Nahrung, Sexualität, soziale Interaktion) oder sogar schon durch die Erwartung einer derartigen Belohnung aktiviert, und viele werden durch das Ausbleiben der erwarteten Belohnung oder unangenehme Reize supprimiert. Dadurch übertragen diese Neurone überlebenswichtige Signale an das übrige limbische System, um das zur Belohnung führende Verhalten zu fördern. Dazu gehören auch motorische Reaktionen zu Suche und Erhalt der Belohnung (Nucleus accumbens), Erinnerungen an belohnungsassoziierte Schlüsselreize (Amygdala, Hippocampus) und die exekutive Kontrolle über den Erhalt der Belohnung (präfrontaler Kortex).
Substanzen mit Missbrauchspotenzial verändern die Neurotransmission durch initiale Wirkungen auf verschiedene Klassen von Ionenkanälen, Neurotransmitterrezeptoren oder Neurotransmittertransporter (Tab. 465e-2). Wie Tierstudien zeigten, laufen die Aktionen dieser Substanzen in den Belohnungszentren des Gehirns trotz unterschiedlicher initialer Angriffspunkte zusammen, indem sie die dopaminerge Neurotransmission im Nucleus accumbens und anderen limbischen Zielen der Area tegmentalis ventralis fördern. Außerdem fördern manche Substanzen die Aktivierung von Opioid- und Cannabinoidrezeptoren, die das Belohnungssystem modulieren. Über diese Mechanismen produzieren Substanzen mit Missbrauchspotenzial starke Belohnungssignale, die nach wiederholtem Gebrauch den vulnerablen Aspekt des Belohnungskreislaufs des Gehirns so kompromittieren, dass eine Sucht gefördert wird. Drei wichtige pathologische Adaptationen wurden beschrieben: Erstens erzeugen die Substanzen Toleranz und Abhängigkeit in den Belohnungskreisläufen, was eine Dosiserhöhung fördert und durch negative Emotionen während des Entzugs Rezidive begünstigt. Zweitens kommt es zur Sensibilisierung gegenüber den belohnenden Effekten der Substanzen und den mit ihnen assoziierten Schlüsselreizen, was bei längerer Abstinenz deutlich wird und ebenfalls Rezidive fördert. Drittens sind die Exekutivfunktionen so gestört, dass es zur Zunahme von Impulsivität und Zwanghaftigkeit kommt, was ebenfalls Rezidive fördert.
Bildgebende Untersuchungen des Menschen zeigen, dass Substanzen mit Suchtpotenzial sowie das Verlangen nach ihnen die Belohnungszentren des Gehirns aktivieren. Patienten, die missbräuchlich Alkohol oder Psychostimulanzien konsumieren, weisen eine geringere Menge an grauer Substanz im präfrontalen Kortex sowie bei Tests von Aufmerksamkeit und inhibitorischer Kontrolle eine reduzierte Aktivität des anterioren Cingulums und des orbitofrontalen Kortex auf. Möglicherweise tragen Schäden dieser Kortexbereiche zur Sucht bei, indem sie die Entscheidungsfindung stören und die Impulsivität erhöhen.
Neuroinflammation
Bei einem Teil der depressiven Patienten mehren sich die Hinweise auf die Beteiligung entzündlicher Mechanismen, da ihre Serumspiegel von Interleukin 6 (IL-6), Tumor-Nekrose-Faktor α (TNF-α) und anderen Zytokinen erhöht sind. Zu einem ähnlichen Anstieg der peripheren Zytokine kommt es bei Nagetieren, die chronischem Stress ausgesetzt sind. Gleichzeitig erhöht die periphere oder zentrale Gabe dieser Zytokine bei normalen Nagetieren die Suszeptibilität für chronischen Stress. Aufgrund dieser Befunde kam die Idee auf, periphere Zytokine als Biomarker für einen Subtyp der Depression einzusetzen. Außerdem können evtl. neue Antidepressiva entwickelt werden, welche die Zytokinwirkung aufheben.
Außerdem gibt es aktuelle Belege für einen Zusammenhang zwischen der proinflammatorischen zerebralen Signalgebung und Abhängigkeitserkrankungen, insbesondere Alkoholismus. Beim Menschen ist bei Alkoholabhängigkeit die angeborene Immunantwort beeinträchtigt. Außerdem sind die im Blut zirkulierenden proinflammatorischen Zytokine ebenso erhöht wie die intrazerebralen Spiegel des Zytokins Monocyte Chemotactic Protein-1 (MCP-1, auch als CCL2 bezeichnet). Viele dieser Zytokine werden von Astrozyten und Mikroglia sowie unter bestimmten pathologischen Bedingungen auch von Neuronen produziert; sie spielen dann eine wichtige Rolle bei der Modifikation der neuronalen Funktion und Plastizität. So moduliert MCP-1 die Freisetzung bestimmter Neurotransmitter. Bei Gabe in die Area tegmentalis ventralis erhöht es die neuronale Exzitabilität, fördert die Dopaminfreisetzung und erhöht die lokomotorische Aktivität. Aktuelle Array-Studien zur Genexpression bei Alkoholismus bei Mäusen haben ein Netzwerk aus regulatorischen Zytokinen im Gehirn nachgewiesen. Für mehrere dieser Zytokine, darunter IL-6, wurde vor kurzem die Bedeutung bei der Regulation des Alkoholkonsums validiert. Derzeit konzentriert sich die Forschung darauf, den Ort und den Mechanismus zu klären, über den die proinflammatorischen Zytokine die Hirnfunktion beeinträchtigen, eine depressive Episode auslösen oder Substanzabusus fördern.
Schlussfolgerungen
Diese Schilderung fasst die Fortschritte im Verständnis der genetischen und neurobiologischen Basis einiger psychischer Erkrankungen zusammen. Es wird erwartet, dass künftig häufiger biologische Parameter zu Diagnostik und Klassifizierung psychischer Erkrankungen eingesetzt werden und dass in Zukunft gezielte Therapeutika zu deren Behandlung zur Verfügung stehen werden.
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