87e Systembiologie/-pathologie beim Gesunden und Kranken
In der Biomedizin setzt sich zunehmend der Gedanke durch, dass der bisherige reduktionistische Ansatz der biologischen Forschung nicht ausreicht, um die hohe Komplexität biologischer Systeme und deren pathologische Abweichungen zu erfassen. Von dieser Erkenntnis ausgehend, hat sich im letzten Jahrzehnt die Systembiologie bzw. Systempathologie als eigenständige Wissenschaftsrichtung etabliert. Durch Kombination moderner molekularer genomischer und proteomischer Methoden mit neuen computerbasierten Datenanalysen und Simulationsverfahren wird es zunehmend besser möglich, das komplexe, zumeist nicht lineare Verhalten biologischer Systeme zu verstehen und vorherzusagen. Aufbauend auf diesen Kenntnissen werden zukünftig neue Therapieformen (neue molekulare Zielstrukturen, Kombinationstherapien) mit dem Ziel entwickelt werden, die Behandlungsoptionen möglichst präzise auf die molekularen Eigenschaften der Krankheiten individueller Patienten anzupassen.
Langfristig wird die Systempathologie die bestehenden Krankheitsklassifikationen um wichtige funktionelle Aspekte erweitern, was insbesondere bei der personalisierten oder zielgerichteten Medizin („Präzisionsmedizin“) von bösartigen Tumoren eine zentrale Rolle spielen wird, aber alle Bereiche der Medizin beeinflussen wird.
Für die deutsche Ausgabe Frederick Klauschen und Manfred Dietel
Aufgrund eines reduktionistischen Ansatzes, d. h. der vollständigen Bestimmung eines Systems durch seine Einzelbestandteile zur Lösung wissenschaftlicher Probleme, konnte sich das Gebiet der Humanbiologie über die letzten drei Jahrhunderte rasant entwickeln. Biologen untersuchten die experimentelle Reaktion eines Organismus, einer Zelle oder eines Zellkompartiments auf eine Variable, während alle anderen Variablen konstant gehalten wurden. Auf diese Weise lassen sich die Einzelkomponenten eines biologischen Systems separieren und durch das Verständnis der einzelnen Bestandteile oder Funktionseinheiten (z. B. eines Enzyms oder eines Transkriptionsfaktors) das Verhalten des biologischen Systems insgesamt verständlich machen (z. B. eines Stoffwechselwegs bzw. eines genetischen Netzwerks). Allerdings verhalten sich biologische Systeme aufgrund ihrer hohen Komplexität in der Regel nicht linear, weswegen ihr Verhalten oft nicht anhand isoliert untersuchter Teilkomponenten vorhergesagt werden kann. Das zunehmende Verständnis dieser Einschränkung der konventionellen biologischen Forschung hat zur Entwicklung einer neuen Disziplin geführt, der Systembiologie. Sie ist definiert als das ganzheitliche integrierte Erfassen lebender Organismen und ihrer zellulären und molekularen Netzwerkelemente. Alle regulatorischen Prozesse vom Genom über das Epigenom, Proteom und Metabolom bis zu den Organellen, den Zellen und dem Gesamtorganismus sowie dessen Verhalten sollen erfasst werden. Darauf aufbauend sollen die Reaktionen auf Störungen präziser vorhergesagt werden. Die Grundlagen der Systembiologie lassen sich dann auf menschliche Krankheiten und deren Behandlung anwenden und definieren das Gebiet der Systempathologie oder Systemmedizin, durch die ein umfassendes funktionelles Verständnis der durch genetische und/oder Umwelteinflüsse bedingten Krankheitsprozesse erlangt werden soll, um daraus kausale, zielgerichtete Therapien abzuleiten.
Der Ansatz der Systembiologie leitet sich aus den mathematisch dominierten Natur- und Ingenieurwissenschaften ab, wie z. B. der mathematischen Modellierung physikalischer Systeme oder dem System-Engineering, bei dem eine miteinander verbundene Auswahl von Komponententeilen ein Netzwerk bildet, dessen Ergebnis der Konstrukteur vorhersagen möchte. Einige der Grundlagen des System-Engineerings können am einfachen Beispiel einer elektrischen Schaltung veranschaulicht werden. Alle Einzelkomponenten des Stromkreises – Widerstände, Kondensatoren, Transistoren – besitzen feststehende, präzise beschreibbare Eigenschaften. Sie können jedoch auf verschiedene Weise verbunden (verdrahtet oder konfiguriert) werden, sodass jeweils ein Schaltkreis entsteht, der anders auf die angelegte Spannung reagiert als jede andere Konfiguration. Um das Verhalten des Schaltkreises (d. h. des Systems) vorhersagen zu können, muss der Konstrukteur dessen Reaktion auf Einflüsse (z. B. angelegte Spannung) holistisch ermitteln und nicht nur für die einzelnen Komponenten. Anders betrachtet, ist das resultierende Verhalten des Systems größer als (oder different anders als) die Summe seiner Komponenten. Das System-Engineering nutzt strikte mathematische Ansätze, um dieses komplexe, nicht lineare Verhalten vorherzusagen. Analog muss man für biologische Systeme festhalten, dass das ausführliche Wissen über ein einzelnes Protein in einem zellulären Signalpfad oder über einen einzelnen Transkriptionsfaktor in einem genetischen Netzwerk i. d. R. nicht ausreicht, um das Ergebnis des biologischen Netzwerkes vorherzusagen. Dies ist nur durch ein systembasiertes Vorgehen möglich.
Es hat lange gedauert, bis die Biologen die Bedeutung des systemischen Ansatzes für die Lösung biologischer Probleme anerkannt haben. Viele Jahrzehnte lang herrschte der Reduktionismus, vor allem, weil für die systemische Betrachtung notwendige experimentelle Hochdurchsatzverfahren fehlten, aber auch, weil der konventionelle Ansatz bereits Einblicke in physiologische und pathologische Prozesse lieferte und erfolgreiche Behandlungsansätze hervorbrachte. Trotzdem kann der Reduktionismus nicht alle biologischen Probleme lösen. So werden die Indikationsbereiche neuer Medikamente oft durch unerwünschte Wirkungen eingeschränkt, weil sie nicht ganzheitlich untersucht wurden, weil also nicht alle möglichen Wirkungen neben der gewünschten Hauptwirkung untersucht wurden, wegen derer die Substanz entwickelt wurde. Daher besteht ein hoher Bedarf an neuen modellhaften Ansätzen zum Verständnis der funktionell-biologischen Implikationen von therapeutischen Ansätzen. Durch die immer größer werdenden genomischen, epigenetischen, proteomischen und metabolomischen Datensätze, in denen dynamische Veränderungen bei der Expression vieler Gene und vieler Metaboliten nach einer Störung erfasst werden und die Verfügbarkeit von leistungsfähigen Computern ist nun der Weg bereitet, um die mathematischen Modellierungsansätze auf die moderne Biologie anzuwenden.
Aus historischer Sicht entsprach der Aufbau physiologischer Studien immer mehr systemischen Ansätzen, sodass die Physiologen zu den ersten Systembiologen gehörten. Allerdings haben auch sie sich mit wenigen Ausnahmen auf vergleichsweise einfache physiologische Systeme konzentriert, die sich mit konventionellen, reduktionistischen Verfahren verfolgen lassen. Bemühungen um ein integratives Modell der physiologischen Systeme des Menschen, wie es erstmals von Guyton für die Blutdruckregulierung aufgestellt wurde, sind eines der ersten Beispiele für systembiologische Anwendungen in der Physiologie. Diese dynamischen physiologischen Modelle konzentrieren sich oft auf die Akutreaktion messbarer physiologischer Parameter, also auf eine Störung des Systems aus klassisch-analytischer Sicht, bei der alle konventionellen physiologischen Einflussfaktoren der Ergebnisvariable bekannt sind und quantitativ verändert werden können. Detaillierte molekulare genomische oder proteomische Analysen spielen hierbei im Gegensatz zur heutigen Systembiologie noch keine Rolle.
Bis vor kurzem war wegen des unzureichenden Wissens über die molekularen Bestandteile des jeweiligen biologischen Systems nur eine eingeschränkte molekulare Systemanalyse möglich. Obwohl die Biochemiker seit 50 Jahren Signaltransduktions- bzw. Stoffwechselwege aus systemischer Sicht untersuchen, wurden ihre Bemühungen durch unzureichende Schlüsselinformationen über jedes Enzym (KM, kcat und Konzentration) und Substrat (Konzentration) dieses Stoffwechselweges eingeschränkt. Nachdem immer mehr molekulare Datensätze für eine Systemanalyse verfügbar sind, wie genomische, transkriptomische, proteomische und metabolomische Daten, sind die Biochemiker nunmehr ausreichend gerüstet, um biologische und pathologische Phänomene mit einem systembiologischen Ansatz zu klären.
Eigenschaften komplexer biologischer Systeme
Um zu verstehen, wie sich die Grundlagen der Systembiologie am besten auf die Humanbiologie anwenden lassen, müssen kurz die Bausteine aller biologischen Systeme und die Determinanten der Systemkomplexität dargelegt werden. Alle Systeme lassen sich durch die Definition ihrer statischen Topologie (Architektur) und ihrer dynamischen (d. h. zeitabhängigen) Reaktion auf Störungen analysieren. In der nachfolgenden Diskussion werden Systemeigenschaften beschrieben, die sich aus den Folgen der Topologie (Form) der dynamischen Reaktion (Funktion) ableiten. Jedes System aus interagierenden Elementen lässt sich schematisch als Netzwerk aus miteinander verbundenen Knoten darstellen. Die Art der Verbindungen der Knoten spiegelt die Komplexität des Systems wider. Einfache Systeme sind solche, deren Knoten linear miteinander verbunden sind mit gelegentlichen Feedback- oder Feedforward-Schleifen, die das Systemverhalten hochgradig vorhersehbar modulieren. Im Gegensatz dazu bestehen komplexe Systeme aus Knoten, die auf komplizierte, nicht lineare Weise miteinander vernetzt sind; das Verhalten dieser Systeme ist aufgrund der interagierenden Verbindungen schwieriger vorherzusagen. Das Verhalten des Systems hängt von der Komplexität der Ausgangsbedingungen ab. Dies wiederum bedingt die enorme Schwierigkeit, den Gesamtstatus des Systems zu irgendeinem Zeitpunkt mit großer Genauigkeit vorherzusagen. Komplexe Systeme können als Netzwerk aus interagierenden Komponenten oder Modulen geringerer Komplexität beschrieben werden, von denen jede zur weiteren Auswertung durch einfacher analysierbare kanonische Motive (wie Feedback- und Feedforward-Schleifen oder negative und positive Autoregulation) reduziert werden kann. Allerdings besteht eine zentrale Eigenschaft komplexer Systeme darin, dass die Vereinfachung ihrer Strukturen durch Aufdeckung und Charakterisierung der einzelnen Knoten und Verbindungen oder sogar der einfacheren Substrukturen kein sicher vorhersehbares Verständnis des Verhaltens eines Systems erlaubt. Somit verhält sich das komplexe System i. d. R. anders als die Summe seiner einzelnen Teile.
Bei einer derartigen Definition sind die meisten biologischen Systeme komplex und ihr Verhalten nicht durch einfache reduktionistische Verfahren vorhersagbar. Bei den o. g. Knoten oder Hubs kann es sich beispielsweise um Metaboliten oder Proteine handeln, die durch sie transformierende Enzyme verbunden sind, oder um Transkriptionsfaktoren, die wiederum durch Gene verbunden sind, deren Expression sie beeinflussen. Biologische Systeme sind typischerweise skalenfreie und keine stochastischen Knotennetzwerke. Skalenfreie Netzwerke besitzen wenige Knoten mit vielen Verbindungen zu anderen Knoten (hochvernetzte Knoten oder Hubs), die meisten haben aber nur wenige Verbindungen (schwach vernetzte Knoten). Der Begriff skalenfrei bezieht sich darauf, dass die Verbindung der Knoten des Netzwerks nicht durch die Größe des Netzwerks bestimmt wird. Dies unterscheidet sich von zwei anderen häufigen Netzwerkstrukturen: die zufällige (Poisson-Verteilung) und die exponentielle Verteilung. Skalenfreie Netzwerke lassen sich mathematisch als Potenz beschreiben, welche die Wahrscheinlichkeit der Anzahl der Verbindungen je Knoten festlegt (P[k] = k−(t), wobei k die Anzahl der Verbindungen je Knoten ist und der Abfall der Log P[k] versus log [k] die Kurve ist); diese einzigartige Eigenschaft der meisten biologischen Netzwerke spiegelt deren Selbstähnlichkeit oder fraktale Natur wider(Abb. 87e-1).
Skalenfreie biologische Systeme besitzen einzigartige Eigenschaften, die ihre Entwicklung widerspiegeln und ihre Anpassungsfähigkeit und ihr Überleben ermöglichen. Biologische Netzwerke entwickelten vermutlich immer nur einen Knoten zu einem Zeitpunkt in einem Vorgang, bei dem neue Knoten mit höherer Wahrscheinlichkeit mit einem hoch vernetzten Knoten verbunden werden als mit einem kaum vernetzten Knoten. Außerdem können skalenfreie Netzwerke kaum miteinander vernetzt sein und komplexere, modulare skalenfreie Topologien aufweisen. Dieses evolutionäre Wachstum biologischer Netzwerke hat drei wichtige Eigenschaften, welche die Funktion und das Überleben beeinflussen. Erstens fördert das skalenfreie Zufügen neuer Knoten die Systemredundanz und reduziert dadurch die Folgen von Fehlern auf ein Minimum und gleicht so robust Störungen des Systems mit minimalen Effekten auf kritische Funktionen aus (sofern die hochvernetzten Knoten Zielpunkt der Störung sind). Zweitens bedeutet die resultierende Netzwerkredundanz einen Überlebensvorteil des Systems. In komplexen Gennetzwerken beispielsweise tragen Mutationen oder Polymorphismen schwach vernetzter Gene zur Biodiversität und biologischen Variabilität bei, ohne die kritischen Systemfunktionen zu stören; nur Mutationen hochvernetzter (essenzieller) Gene (Hubs) können das System herunterfahren und zur embryonalen Letalität beitragen. Drittens erleichtern skalenfreie biologische Systeme den Informationsfluss (z. B. den Fluss von Metaboliten) im System im Vergleich zu zufällig organisierten biologischen Systemen; diese so genannte „Kleine-Welt“-Eigenschaft des Systems (in dem die Clusterbildung der hochvernetzten Hubs eine Gruppe im Netzwerk bildet, die durch schwächere, seltenere Vernetzungen mit anderen Clustern kommuniziert) reduziert den Energieaufwand der dynamischen Aktion des Systems (z. B. minimiert es die Übergangszeiten zwischen den Zustandsformen in einem metabolischen Netzwerk). Diese Organisationsgrundlagen komplexer biologischer Systeme führen zu drei einzigartigen Eigenschaften. Erstens sind biologische Systeme robust, also recht stabil gegenüber den meisten Einflüssen von außen und innen. Zweitens sind biologische Systeme als Begleiterscheinung der Robustheit unempfindlich gegenüber äußeren und inneren Veränderungen insbesondere auch dann, wenn ein Hub an der Veränderung beteiligt ist. Drittens entwickeln komplexe biologische Systeme neue Eigenschaften, was bedeutet, dass sie ein Verhalten zeigen, das sich nicht durch die reduktionistische Beschreibung ihrer Bestandteile vorhersagen lässt. Beispiele für ein aufkommendes Verhalten von biologischen Systemen sind spontane, selbsterhaltende Schwankungen der Glykolyse, Depolarisationswellen im Herzgewebe, die zu Reentry-Arrhythmien führen, und selbstorganisierte Muster biochemischer Systeme durch Diffusion und chemische Reaktion.
Abbildung 87e-1Netzwerkrepräsentationen und ihre Verteilung. Links wird ein Zufallsnetzwerk dargestellt. Das Diagramm darunter zeigt die Poisson-Verteilung der Anzahl der Knotenverbindungen (k). Rechts ist ein skalenfreies Netzwerk abgebildet und darunter die Potenzverteilung der Anzahl der Knotenverbindungen (k). Hochvernetzte Knoten (Hubs) sind heller dargestellt.
Anwendung der Systembiologie auf die Pathologie
Die Grundlagen der Systembiologie wurden mit ersten Erfolgen auf komplexe pathologische Prozesse angewandt. Der Schlüssel ist die Identifikation unerwarteter Eigenschaften des untersuchten Systems, um neuartige, aus reduktionistischer Sicht nicht vorhersehbare Reaktionen zur Regulierung des Systems zu erkennen. Mithilfe der Systembiologie wurden Epidemien und Möglichkeiten zu deren Eindämmung charakterisiert, wobei sich die skalenfreien Eigenschaften des Netzwerks infizierter Individuen, aus denen die Epidemie bestand, als nützlich erwies. Durch eine Systemanalyse des neuralen Protein-Protein-Interaktionsnetzwerks wurden krankheitsmodifizierende Proteine identifiziert, die oft bei den neurodegenerativen Kleinhirnerkrankungen, die zu den hereditären Ataxien führen, vorkommen. Die Systemanalyse und die Rekonstruktion pathologisch veränderter Netzwerke bei pulmonalarterieller Hypertonie ermöglichten die Identifikation eines speziellen Krankheitsmoduls, an dem ein von mikroRNS21 geregelter Signalweg beteiligt ist. Mit systembiologischen Modellen wurde die Dynamik der Entzündungsreaktion mit periodischen Veränderungen im Transkriptionsfaktor NF-κB als Systemergebnis aufgeschlüsselt. Systembiologische Grundlagen wurden auch zur Vorhersage der Entwicklung eines Idiotypie-Antiidiotypie-Antikörper-Netzwerks verwendet, zur Beschreibung der Dynamik des Spezieswachstums in mikrobiellen Filmen und zur Analyse der angeborenen Immunreaktion. In einer anderen Arbeit wurde mit Hilfe systembiologischer Methoden die verschiedene Aggressivität unterschiedlicher Influenza-Virusstämme entschlüsselt. Bei jedem dieser Beispiele lieferte ein system(-patho)-biologischer Ansatz Einblicke in das Verhalten dieser komplexen Systeme, die dem konventionellen reduktionistischen wissenschaftlichen Ansatz entgangen wären.
Eine zukünftig an Bedeutung zunehmende Anwendung der Systembiologie in der Biomedizin liegt im Bereich der Arzneimittelentwicklung. Bei der konventionellen Entwicklung neuer Medikamente werden mögliche Zielproteine festgelegt und dann Komponenten entworfen oder gescreent, um diejenigen zu identifizieren, welche die Funktion des Ziels hemmen können. Durch diese reduktionistische Analyse wurden viele mögliche Angriffspunkte für Medikamente und Medikamente identifiziert, aber nur durch die Untersuchung einer Substanz im Tiermodell oder am Menschen lassen sich die systemischen Folgen der Medikamentenwirkung aufdecken. Es ist nicht ungewöhnlich, dass so genannte Off-target-Effekte auftauchen und ausreichen, dass die Forscher die Entwicklung der Substanz nicht weiter verfolgen. Ein gutes Beispiel für dieses Problem ist das unerwartete Ergebnis bei der Behandlung mit Vitamin-B-haltigen Regimen zur Senkung der Homocysteinspiegel. In diesen Studien wurden die Plasmahomocysteinspiegel erfolgreich gesenkt; allerdings wirkte sich dieser Effekt nicht reduzierend auf die klinischen vaskulären Endpunkte aus. Eine Erklärung dafür ist, dass eines der verabreichten B-Vitamine, Folsäure, eine Palette von Wirkungen auf die Zellproliferation und den Metabolismus hat, die den Nutzen durch die Absenkung des Homocysteins vermutlich aufheben, ein aggressives Wachstum der atherosklerotischen Plaques und deren Auswirkungen auf klinische Ereignisse fördern. Abgesehen von diesen Formen unerwarteter Ergebnisse über zunächst nicht berücksichtigte Wege fließen in konventionelle Ansätze der Arzneimittelentwicklung normalerweise keine möglicherweise neuen Reaktionen des Organismus, der Signalpfade oder des Transkriptionsnetzwerks ein. Daher profitiert die Therapieentwicklung von einer systembasierten Analyse potenzieller Medikamente (Netzwerkanalyse des medikamentösen Angriffspunkts), indem sie die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass die zu untersuchende Substanz keine unvorhergesehenen Nebenwirkungen entwickelt und indem sie neue Analyseverfahren zur Identifikation besonderer Kontrollpunkte in metabolischen oder genetischen Netzwerken fördert, die von einer Modulation durch Arzneimittel profitieren würden.
Systempathologie und Klassifikation menschlicher Krankheiten: Netzwerkmedizin
Der vermutlich bedeutsamste Fortschritt, der durch die Einführung der Systempathologie erreicht wurde, liegt in der Möglichkeit, die Definition menschlicher Krankheiten zu verbessern und zu verfeinern. Die Klassifikation humaner Krankheiten, die in diesem und allen anderen medizinischen Lehrbüchern verwendet wird, leitet sich von der Korrelation pathologischer Befunde und klinischer Syndrome ab, die im 19. Jahrhundert begonnen hat (R. Virchow, 1855). Obwohl dieser Ansatz immer noch sehr erfolgreich ist und die Basis für die Entwicklung vier wirkungsvoller Therapien legte, unterliegt er doch wichtigen Einschränkungen. Dazu gehören eine fehlende Sensitivität bei der Definition präklinischer Krankheiten, die zu starke Konzentration auf klinisch manifeste Krankheiten, das Übersehen anderer und möglicherweise differenzierbarer Ursachen häufiger fortgeschrittener Phänotypen und eine begrenzte Fähigkeit zur Inkorporation der wachsenden Anzahl molekularer und genetischer Determinanten des Pathophänotyps in das konventionelle Klassifikationssystem.
Zwei Beispiele zeigen die Schwäche der einfachen Korrelationsanalyse, die auf dem reduktionistischen Sparsamkeitsprinzip basiert (Ockhams Rasiermesser), bei der Definition humaner Krankheiten. Bei der Sichelzellanämie wird die „klassische“ Mendel-Krankheit durch eine Val6Gln-Substitution der β-Kette von Hämoglobin verursacht. Sofern die konventionelle genetische Lehre gilt, sollte diese einzelne Mutation bei den Patienten mit dieser Mutation zu einem bestimmten Phänotyp führen (Genotyp-Phänotyp-Korrelation). Diese Annahme ist jedoch falsch, da Patienten mit Sichelzellanämie unterschiedliche klinische Symptome und Krankheitskomplikationen aufweisen, wie hämolytische Anämie, Schlaganfall, akutes Thoraxsyndrom, Knocheninfarkte und Sichelzellkrisen, sowie einen klinisch normalen Phänotyp. Zu den Gründen für die unterschiedlichen Phänotypen gehört das Vorhandensein krankheitsmodifizierender Gene oder Genprodukte (z. B. Hämoglobin F, Hämoglobin C, Glukose-6-phosphatdehydrogenase), Exposition gegenüber ungünstigen Umweltfaktoren (z. B. Hypoxie, Dehydratation) sowie genetische und Umweltfaktoren der häufigen intermediären Pathophänotypen (d. h. Variationen der generischen pathologischen Mechanismen, die allen humanen Krankheiten zugrunde liegen – Entzündung, Thrombose/Hämorrhagie, Fibrose, Zellproliferation, Apoptose/Nekrose, Tumorgenese, Immunreaktion).
Ein zweites wichtiges Beispiel ist die familiäre pulmonal-arterielle Hypertonie. Diese Krankheit geht mit mehr als 100 verschiedenen Mutationen in drei Mitgliedern der Transforming-growth-factor-β(TGF-β)-Superfamilie einher: bone morphogenetic protein receptor-2 (BMPR-2), activin receptor-like kinase-1 (Alk-1) und Endoglin. Alle diese unterschiedlichen Genotypen haben einen gemeinsamen Pathophänotyp, der jeweils durch einen molekularen Mechanismus entsteht, der von der Haploinsuffizienz bis zu dominanten negativen Effekten führt. Da nur etwa ein Viertel der Mitglieder von Familien mit diesen Mutationen den Phänotyp entwickeln, tragen andere krankheitsmodifizierende Gene (z. B. der Serotoninrezeptor 5-HT2B, der Serotonintransporter 5-HTT), genomische und Umweltfaktoren häufiger intermediärer Phänotypen und Umweltexpositionen vermutlich zur inkompetenten Penetranz der Krankheit bei (z. B. Hypoxie, infektiöse Substanzen [HIV], Anorexiegene).
Ein ähnliches Beispiel aus der Onkologie ist das sehr variable Ansprechen von Tumoren mit onkogenen Mutationen auf zielgerichtete Therapien. Während z. B. einige Patienten mit Tumoren der Lunge mit aktivierenden Wachstumsfaktorrezeptormutationen ein länger anhaltendes Ansprechen auf eine zielgerichtete inhibitorische Therapie zeigen, sind die Effekte bei vielen Patienten nur kurzzeitig oder es existieren sogar initiale Resistenzen, was auf die Bedeutung der, insbesondere bei Lungenkarzinomen, zahlreichen weiteren Mutationen hinweist. Die Insuffizienz der monogenetischen Betrachtungsweise zeigt sich auch in negativen Ergebnissen von Studien (sog. Basket-Trials), bei denen Therapien gegen bestimmte mutierte Zielmoleküle über Organ- und Gewebe-basierte Tumortypen hinweg getestet werden. Letztendlich ermöglichen nur systempathologische Ansätze ein substanziell besseres Verständnis der Komplexität von Tumorerkrankungen und legen damit die Grundlage für die Entwicklung kausaler Kombinationstherapien.
Anhand dieser und vieler anderer ähnlicher Beispiele lassen sich die Erkrankungen des Menschen aus systempathologischer Sicht als Netzwerke aus folgenden Modulen beschreiben: den primären krankheitsbestimmenden Elementen des Genoms (oder Proteoms, wenn die Modifikation posttranslational erfolgte), den krankheitsmodifizierenden Elementen des Genoms oder Proteoms, Umweltfaktoren und genomischen sowie Umgebungsdeterminanten des generischen intermediären Phänotyps. Abbildung 87e-2 stellt diese Beziehung zwischen Genotyp und Phänotyp grafisch für die sechs häufigsten Krankheitsformen dar und gibt für jede Form Beispiele. Abbildung 87e-3 zeigt eine netzwerkbasierte Darstellung der Sichelzellkrankheit mit diesem modularen Ansatz.
Abbildung 87e-2Beispiele für die modularen Repräsentationen menschlicher Krankheiten. D = sekundäres Genom oder Proteom der menschlichen Krankheit; E = Umgebungsfaktoren; G = primäres Genom oder Proteom der menschlichen Krankheit; I = intermediärer Phänotyp; P = Pathophänotyp. (Aus Loscalzo et al: Molec Syst Biol 3:124, 2007, mit frdl. Genehmigung.)
Abbildung 87e-3A. Theoretisches Netzwerk menschlicher Krankheiten, das die Beziehungen zwischen genetischen und Umweltdeterminanten auf die Pathophänotypen wiedergibt. D = sekundäres Genom oder Proteom der menschlichen Krankheit; E = Umgebungsfaktoren; G = primäres Genom oder Proteom der menschlichen Krankheit; I = intermediärer Phänotyp; P = Pathophänotyp; PS = pathophysiologische Umstände, die zu P führen. B. Beispielhafte Anwendung dieses theoretischen Konstrukts auf die Sichelzellkrankheit.
Anmerkungen: rot = primäre molekulare Veränderung; grau = krankheitsmodifizierende Gene; gelb = intermediäre Phänotypen; grün = Umgebungsfaktoren; blau = Pathophänotypen. (Aus Loscalzo et al: Molec Syst Biol 3:124, 2007, mit frdl. Genehmigung.)
Goh und Kollegen entwickelten das Konzept eines humanen Krankheitsnetzwerks (Abb. 87e-4), mit dem sie die in der Online Mendelian Inheritance in Man aufgelisteten Zusammenhänge zwischen Krankheiten und Genen mit einem systemischen Ansatz analysierten. Ihre Auswertung zeigte, dass Gene, die mit bestimmten Krankheiten verbunden sind, mit höherer Wahrscheinlichkeit physikalisch assoziierte Produkte haben und dass sich die Transkriptionsprofile dieser Gene stärker ähneln als bei Genen, die nicht mit ähnlichen Krankheiten zusammenhängen. Außerdem interagieren die mit demselben Phänotyp verbundenen Proteine mit höherer Wahrscheinlichkeit miteinander als mit anderen Proteinen, die nicht mit diesem Phänotyp assoziiert sind. Schließlich zeigten die Autoren, dass die überwiegende Mehrheit der krankheitsassoziierten Gene nicht hoch vernetzt ist (d. h. keine Hubs), sondern dass es sich typischerweise um kaum vernetzte Knoten in der funktionellen Peripherie des Netzwerks handelt, an dem sie beteiligt sind.
Abbildung 87e-4A. Jeder Knoten entspricht einer bestimmten Krankheit, eingefärbt nach der Klasse (22 Klassen, siehe Legende zu Bild B). Die Größe der Knoten entspricht jeweils der Anzahl der Gene, die zu der Krankheit beitragen. Die Verbindungslinien zwischen den Krankheiten derselben Krankheitsklasse sind in derselben (helleren) Farbe dargestellt und Verbindungslinien der verschiedenen Krankheitsklassen miteinander in Grau, wobei ihre Dicke proportional der Anzahl der gemeinsamen Gene der verbundenen Krankheiten ist. B. Jeder Knoten entspricht einem Gen und zwei Gene sind verbunden, wenn sie an derselben Krankheit beteiligt sind. In dieser Netzwerkkarte ist die Größe des Knotens proportional zur Anzahl der spezifischen Krankheiten, an denen das Gen beteiligt ist. (Aus KI Goh et al: Proc Natl Acad Sci USA 104:8685, 2007, mit frdl. Genehmigung der National Academies Press.)
Diese Form der Auswertung wird der möglichen Bedeutung von Krankheitsdefinitionen anhand systempathologischer Faktoren gerecht. Natürlich sind dafür eine sorgfältigere Aufschlüsselung der molekularen Elemente der beteiligten Signalpfade erforderlich (d. h. eine präzisere molekulare Phänotypisierung) sowie eine Klassifikation der Krankheiten, die sich nicht so stark auf deren Symptome stützt, und ein Verständnis der Dynamik (und nicht nur der statischen Architektur) des pathologischen Netzwerks, das den auf diese Weise definierten Pathophänotypen zugrunde liegt. Abbildung 87e-5 zeigt die Elemente eines molekularen Netzwerks, die ein Krankheitsmodul umfassen. Dieses Netzwerk wird zunächst anhand der (physikalischen oder regulatorischen) Interaktionen zwischen seinen Proteinen oder Genen identifiziert (dem „Interaktom“). Diese Interaktionen definieren ein topologisches Modul, das funktionelle Module (Signalwege) und Krankheitsmodule enthält. Einen Ansatz zur Konstruktion dieses Moduls zeigt Abbildung 87e-6. Beispiele für die Anwendung dieses Ansatzes bei der Definition neuartiger Krankheitsdeterminanten gibt Tabelle 87e-1.
Abbildung 87e-5Elemente des Interaktoms. Das Interaktom umfasst topologische Module (Gene oder Genprodukte, die durch direkte Interaktionen eng miteinander assoziiert sind), funktionelle Module (Gene oder Genprodukte, die gemeinsam einen Signalweg definieren) und Krankheitsmodule (Gene oder Genprodukte, die interagieren, um einen Phänotyp zu erzeugen). (Mit frdl. Genehmigung aus AL Barabasi et al: Nat Rev Genet 12:56, 2011.)
Abbildung 87e-6Ansätze zur Identifikation von Krankheitsmodulen in molekularen Netzwerken. Eine Strategie zur Definition von Krankheitsmodulen umfasst (i) die Rekonstruktion des Interaktoms, (ii) die Ermittlung möglicher Saatgene (Krankheitsgene) aus der kuratierten Literatur, der Datenbank Online Mendelian Inheritance in Man (OMIM) oder der Genomanalyse (genomweite Assoziationsstudien [GWAS] oder transkriptionales Profiling), (iii) die Identifikation des Krankheitsmoduls mithilfe verschiedener Modellansätze oder statistischer Ansätze, (iv) die Identifikation von Signalwegen sowie der Rolle von Krankheitsgenen oder -modulen in diesen Signalwegen und (v) die Validierung und Vorhersage des Krankheitsmoduls. (Mit frdl. Genehmigung aus AL Barabasi et al: Nat Rev Genet 12:56, 2011.)
Außerdem könnte man anführen, dass eine Krankheit der Spätfolge der Prädilektion eines Organsystems für die Entwicklung eines bestimmten intermediären Pathophänotyps in Reaktion auf einen Schaden entspricht. Dieses Paradigma spiegelt eine umgekehrte Kausalität wider, bei der die Krankheit als eine Tendenz für stärkere Entzündungsreaktionen, eine Thrombose oder eine Fibrose in Reaktion auf einen schädlichen Einfluss ist. Wo sich dieser Prozess manifestiert (d. h. das betroffene Organ) ist weniger wichtig als der Umstand, dass er überhaupt auftritt (mit der Ausnahme organspezifischer pathophysiologischer Folgen, die sofort behandelt werden müssen). So betrachtet, spiegeln der akute Myokardinfarkt und seine Folgen einen Gefäßverschluss (in der Koronararterie), eine Entzündung (des akut geschädigten Myokards) und eine Fibrose wider (im Bereich abgestorbener Kardiomyozyten). Dadurch richtet sich die Behandlung des akuten Myokardinfarkts gegen diese intermediären Pathophänotypen (z. B. Antithrombotika, Statine) und nicht gegen den organspezifischen, krankheitsbestimmenden Prozess. Dieses Paradigma würde für eine systembasierte Analyse sprechen, bei der zunächst die intermediären Pathophänotypen ermittelt werden, für die der Betroffene prädisponiert ist, anschließend Art und Zeitpunkt der Intervention zur Abschwächung dieser nachteiligen Prädisposition und die schließlich die Wahrscheinlichkeit reduzieren, mit der ein klinisch manifestes organspezifisches Ereignis auftritt. Die Evidenz für die Validität dieses Vorgehens findet sich in der Arbeit von Rzhetsky und Kollegen, die 1,5 Millionen Patientenakten und 161 Krankheiten untersuchten und feststellten, dass diese Krankheitsphänotypen ein Netzwerk aus starken paarweisen Korrelationen bilden. Diese Ergebnisse bestätigen die Behauptung, wonach genetische Prädispositionen für intermediäre Phänotypen die Basis für die Vorhersage konventionell definierter organischer Krankheiten liefern.
Unabhängig vom gewählten Ansatz revidiert eine systempathologische Analyse die Definition und Behandlung menschlicher Krankheiten nachhaltig und etabliert das Fachgebiet der Systemmedizin. Dabei handelt es sich um einen langwierigen, komplizierten Prozess, der schließlich Krankheitsprävention und -behandlung auf eine immer stärker auf den Einzelnen abgestimmte Weise verbessern wird. Durch die systembasierte Betrachtung der Pathobiologie werden vermutlich bestimmte Patientenuntergruppen definiert werden können, die aufgrund gemeinsamer Krankheitsmechanismen besser auf bestimmte Maßnahmen ansprechen. Eine besonders wichtige Rolle wird die Systempathologie zukünftig im Verständnis der Pathogenese maligner Tumoren und in der systematischen Erarbeitung der individualisierten oder besser gesagt stratifizierenden Therapie der Malignome spielen. So wiesen Dietel und Schäfer bereits 2008 darauf hin, dass das Verständnis der hochgradig komplexen und variablen Alterationen in Krebszellen nur mit einem systempathologischen Ansatz erreicht werden kann. Wenn dieser durch Integration neuer Technologien (whole genome/exomesequencing, Proteom- und Metabolomanalysen, Simulationsmodellierung) Schritt für Schritt erreicht wird, kann aufbauend auf den für jeden einzelnen Tumor generierbaren molekularen Daten eine zielgerichtete Therapie entwickelt werden.
Bei einigen Krankheiten sind die ersten Schritte in diese Richtung bereits gemacht worden, beispielsweise beim bereits zuvor diskutierten Ansprechen von Lungenkrebspatienten mit Mutationen im epidermal growth factor receptor (EGFR) auf Gefitinib oder Erlotinib, einer am EGFR angreifenden Substanz. Ein weiteres Beispiel ist die KRAS-Mutationsanalyse vonKodon 12 und 13 beim metastasierten kolorektalen Karzinom (mCRC). Diese Untersuchung gehört zu den Klassikern der prädiktiven Pathologie. Die Blockierung der extrazellulären Domäne des EGF-Rezeptors mittels therapeutischer Antikörper (tAK; Cetuximab, Panitumumab) kann nur bei sog. KRAS-Wildtyp-Tumoren erfolgreich sein, da eine Mutation von KRAS intrazellulär zur Autoaktivierung und somit zum Zellwachstum führt, das von den tAK nicht gehemmt wird. Der nächste Entwicklungsschritt sind die Multi-Gentests. Mit diesen werden nicht nur einzelne Genalterationen, sondern veränderte Genexpressionsmuster analysiert. Damit ist es möglich, das biologische Verhalten bestimmter Tumoren mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit prädiktiv zu bestimmen. Am weitesten sind diese Verfahren für das Mamma-Ca entwickelt und mittlerweile bereits in die tägliche Therapieentscheidung eingebunden. Als erste Generation wurden die Testsysteme Oncotype DX® und MammaPrint® eingeführt. Eine wichtige Weiterentwicklung ist mit dem EndoPredict® Test – der sog. 2. Generation – gelungen, da er die klassischen Prognosefaktoren Tumorgröße, Nodalstatus mit den molekularen Mustern verbindet und dadurch eine verbesserte Vorhersagepräzision erreicht. Die Analyse von 8 prognostisch relevanten Genen ermöglicht es mit 96%iger Sicherheit vorherzusagen, ob eine Patientin unter einer alleinigen endokrinen Therapie innerhalb von 10 Jahren Metastasen entwickeln wird. Wenn die Prognose unter der alleinigen endokrinen Therapie günstig ist, kann nach klinischer Einschätzung auf eine zusätzliche Chemotherapie verzichtet werden.
Obwohl es unwahrscheinlich ist, dass jemals eine extrem „individualisierte Medizin“ praktiziert werden kann (oder wünschenswert ist), lassen sich komplexe Krankheiten differenzierter unterteilen und die Interventionen den Umständen anpassen, bei denen sie mit höchster Wahrscheinlichkeit wirken. Ob die Individualisierung der Therapie tatsächlich jemals flächendeckend möglich sein wird, hängt nicht zuletzt davon ab, wie die Entwicklung der Systempathologie in den nächsten Jahren vorankommt und ob sie „alltagsfähig“ und somit klinisch einsetzbar wird.
Weiterführende Literatur
Angermann BR, Klauschen F, Garcia AD et al: Computational modeling of cellular signaling processes embedded into dynamic spatial contexts. Nature Methods 9:283–9, 2012
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